2604 Nur ein Gast


Nur ein Gast


Endlich war es so weit. Die Nacht hatte sich herabgesenkt und tauchte alles in ruhige Sanftheit. Er verließ sein Haus um sie zu besuchen, wie er es jede Nacht zu tun pflegte. Er wählte die Nacht nicht. Sie war ihm gewählt worden. Es war nicht, dass sie eine verbotene Liebschaft hätten oder etwas taten, was im Schleier der Dunkelheit geschehen musste. Ganz im Gegenteil, sie waren rechtmäßig verheiratet, doch das hieß nur, dass er als Gast willkommen war, in ihrem Haus, in der Nacht. Sie waren miteinander verheiratet, aber dennoch waren sie kein Teil ihres Lebens. Es war so üblich, dort wo sie zu Hause waren. Neulich waren Fremde gekommen und hatten erzählt, dass es in ihrer Kultur ganz anders wäre. Da würden ein Mann und eine Frau, die ehelich verbunden waren, miteinander in einem Haus leben, oft weit weg von ihren Müttern und Vätern, bloß miteinander und mit ihren Kindern. Die Frau ging ihren Beschäftigungen im Haus nach und der Mann arbeitete auswärts, hatten diese fremden Menschen erzählt. Das geschah wohl auch in seinem Volk. Aber die Frauen lebten miteinander, die Hausherrin, die Matrona, die weise, erfahrene Frau mit ihren Töchtern und Söhnen, Enkel und Enkelinnen, Urenkel und Urenkelinnen. Da blieb die Familie unter einem Dach und man half sich gegenseitig. Jeder hatte seinen Aufgabenbereich, und es war immer jemand da, der mit den Kindern spielte oder sie auf den Schoß nahm, wenn sie getröstet oder in den Schlaf gewiegt werden mussten. Wie seltsam musste das sein, wenn eine Frau mit all dieser Arbeit und den Kindern gänzlich auf sich allein gestellt wäre, den ganzen Tag, ohne Hilfe und Austausch, isoliert und gefangen in einem einzelnen Haus. Er merkte wie ihm diese fremde Frau schrecklich leid tat, aber auch ihr Mann tat ihm leid, denn der war außer Haus, immer irgendwie fremd, wenn er seiner Arbeit nachging, und das auch für sich alleine. Endlich erreichte er das Haus, in dem seine Frau mit ihrer Familie lebte. Ihr Leben spielte sich hier ab, und er war nur Gast darin. Eigentlich war es gut so. Denn jeder von ihnen lebte sein Leben in Freiheit und Ungebundenheit, ohne Unterdrückung und Zwang, und ihr Zusammenkommen war fast immer ein freudiges. Hier gab es keine Belastungen oder Anforderungen, keine ökonomischen oder sozialen Zwänge, nur ihr Miteinander, und als er zu seiner Frau unter die Decke schlüpfte, fand er sich erwartet und angenommen. Sie brauchte es nicht zu sagen, er wusste, dass sie sich freute, dass er da war. Sanft strich sie mit ihrer Hand über sein Gesicht, durch sein Haar.
„Was ist mit Dir? Was beschäftigt Dich?“, fragte sie unvermittelt.
„Hast Du auch die Geschichten gehört, die die Fremden erzählten, die neulich da waren?“, fragte er seinerseits.
„Ja, die habe ich gehört. Sie meinten, unsere Weise zu leben wäre seltsam. Ihre Ehen sind so ganz anders. Wie nannten sie nur schnell unsere?“, überlegte sie.
„Eine Besuchsehe“, antwortete er unvermittelt.
„Genau, so hatten sie unser Miteinander genannt. Aber wie nennen sie die ihre?“, fragte sie weiter.
„Einfach nur Ehe. Das klingt so, als gäbe es in ihrem Denken keine andere Möglichkeit, als wäre es das Einzige, was man unter dem Begriff verstehen kann. Sie haben die Köpfe geschüttelt und sich über unsere Art des Zusammenlebens gewundert. Dabei kann ich in ihrer Weise keinen Vorteil sehen. Alles wirkt so isoliert, so abgeschnitten und zentriert auf zwei Menschen. Das ist doch eine Bürde, die kaum tragbar ist“, entgegnete er nachdenklich.
„Als wenn die Frau ein Haustier wäre, das in einem Haus, getrennt von allen anderen, eingesperrt wird und das ihm gehört. Kann es denn Rechtens sein, dass ein Mensch einem anderen gehört?“, fuhr sie fort.
„Nein, das kann nicht Rechtens sein. Die Dinge, die ich brauche und die ich benutze, die können mir gehören, aber niemals Du“, sagte er fest.
„Genauso wenig wie Du mir“, fügte sie bekräftigend hinzu.
„Vielleicht sollten sie sich öfter besuchen, damit die Freude bleibt. Vielleicht sollten sie mehr Miteinander erleben, damit die Liebe bleibt. Aber ob das noch zu ändern ist?“, meinte er nachdenklich, während er sich darauf besann, dass er bei ihr war und sie bei ihm, und er war ihr Gast und sie seine Herberge.

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