Nur ein Gast
Endlich war es so weit. Die Nacht hatte sich herabgesenkt
und tauchte alles in ruhige Sanftheit. Er verließ sein Haus um sie zu besuchen,
wie er es jede Nacht zu tun pflegte. Er wählte die Nacht nicht. Sie war ihm
gewählt worden. Es war nicht, dass sie eine verbotene Liebschaft hätten oder
etwas taten, was im Schleier der Dunkelheit geschehen musste. Ganz im
Gegenteil, sie waren rechtmäßig verheiratet, doch das hieß nur, dass er als
Gast willkommen war, in ihrem Haus, in der Nacht. Sie waren miteinander
verheiratet, aber dennoch waren sie kein Teil ihres Lebens. Es war so üblich,
dort wo sie zu Hause waren. Neulich waren Fremde gekommen und hatten erzählt,
dass es in ihrer Kultur ganz anders wäre. Da würden ein Mann und eine Frau, die
ehelich verbunden waren, miteinander in einem Haus leben, oft weit weg von
ihren Müttern und Vätern, bloß miteinander und mit ihren Kindern. Die Frau ging
ihren Beschäftigungen im Haus nach und der Mann arbeitete auswärts, hatten
diese fremden Menschen erzählt. Das geschah wohl auch in seinem Volk. Aber die
Frauen lebten miteinander, die Hausherrin, die Matrona, die weise, erfahrene
Frau mit ihren Töchtern und Söhnen, Enkel und Enkelinnen, Urenkel und
Urenkelinnen. Da blieb die Familie unter einem Dach und man half sich
gegenseitig. Jeder hatte seinen Aufgabenbereich, und es war immer jemand da,
der mit den Kindern spielte oder sie auf den Schoß nahm, wenn sie getröstet
oder in den Schlaf gewiegt werden mussten. Wie seltsam musste das sein, wenn
eine Frau mit all dieser Arbeit und den Kindern gänzlich auf sich allein
gestellt wäre, den ganzen Tag, ohne Hilfe und Austausch, isoliert und gefangen
in einem einzelnen Haus. Er merkte wie ihm diese fremde Frau schrecklich leid
tat, aber auch ihr Mann tat ihm leid, denn der war außer Haus, immer irgendwie
fremd, wenn er seiner Arbeit nachging, und das auch für sich alleine. Endlich
erreichte er das Haus, in dem seine Frau mit ihrer Familie lebte. Ihr Leben
spielte sich hier ab, und er war nur Gast darin. Eigentlich war es gut so. Denn
jeder von ihnen lebte sein Leben in Freiheit und Ungebundenheit, ohne
Unterdrückung und Zwang, und ihr Zusammenkommen war fast immer ein freudiges.
Hier gab es keine Belastungen oder Anforderungen, keine ökonomischen oder
sozialen Zwänge, nur ihr Miteinander, und als er zu seiner Frau unter die Decke
schlüpfte, fand er sich erwartet und angenommen. Sie brauchte es nicht zu
sagen, er wusste, dass sie sich freute, dass er da war. Sanft strich sie mit
ihrer Hand über sein Gesicht, durch sein Haar.
„Was ist mit Dir? Was beschäftigt Dich?“, fragte sie
unvermittelt.
„Hast Du auch die Geschichten gehört, die die Fremden
erzählten, die neulich da waren?“, fragte er seinerseits.
„Ja, die habe ich gehört. Sie meinten, unsere Weise zu
leben wäre seltsam. Ihre Ehen sind so ganz anders. Wie nannten sie nur schnell
unsere?“, überlegte sie.
„Eine Besuchsehe“, antwortete er unvermittelt.
„Genau, so hatten sie unser Miteinander genannt. Aber wie
nennen sie die ihre?“, fragte sie weiter.
„Einfach nur Ehe. Das klingt so, als gäbe es in ihrem
Denken keine andere Möglichkeit, als wäre es das Einzige, was man unter dem
Begriff verstehen kann. Sie haben die Köpfe geschüttelt und sich über unsere
Art des Zusammenlebens gewundert. Dabei kann ich in ihrer Weise keinen Vorteil
sehen. Alles wirkt so isoliert, so abgeschnitten und zentriert auf zwei
Menschen. Das ist doch eine Bürde, die kaum tragbar ist“, entgegnete er
nachdenklich.
„Als wenn die Frau ein Haustier wäre, das in einem Haus,
getrennt von allen anderen, eingesperrt wird und das ihm gehört. Kann es denn
Rechtens sein, dass ein Mensch einem anderen gehört?“, fuhr sie fort.
„Nein, das kann nicht Rechtens sein. Die Dinge, die ich
brauche und die ich benutze, die können mir gehören, aber niemals Du“, sagte er
fest.
„Genauso wenig wie Du mir“, fügte sie bekräftigend hinzu.
„Vielleicht sollten sie sich öfter besuchen, damit die
Freude bleibt. Vielleicht sollten sie mehr Miteinander erleben, damit die Liebe
bleibt. Aber ob das noch zu ändern ist?“, meinte er nachdenklich, während er
sich darauf besann, dass er bei ihr war und sie bei ihm, und er war ihr Gast
und sie seine Herberge.
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