0705 Bewegtes Leben


Bewegtes Leben


Wir saßen am Steg und ich las Dir vor. Du magst meine Stimme. Ich nicht, aber ich muss mir ja nicht zuhören. Du magst die Art wie ich vorlese. Ich mache Geschichten lebendig, sagst Du. Deshalb, und wohl auch weil ich es gerne tue, lese ich Dir. „Des Kaisers neue Kleider“ las ich an diesem Abend, doch irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren. Du warst so unruhig und zappelig. Immer wieder ließt Du Deinen Blick über den Horizont schweifen, als würdest Du ihn nach irgendetwas oder irgendjemanden absuchen.
„Hörst Du mir eigentlich zu?“, fragte ich schließlich.
„Natürlich höre ich Dir zu“, antwortetest Du schnell, zu schnell.
„Und was lese ich?“, fragte ich weiter. Rasch warfst Du mir einen Blick zu, der mir nur allzu deutlich zeigte, dass Du keine Ahnung hattest, um dann gleich wieder wegzusehen.
„Sie kommt nicht. Dabei hat sie es mir so fest versprochen“, entgegnetest Du unvermittelt.
„Wer kommt nicht?“, fragte ich verwirrt.
„Ich habe Dir von ihr erzählt. Sie ist beständig in Bewegung und ich wollte ihr zeigen, dass es auch mal gut ist, nichts zu tun“, antwortetest Du schließlich.
„Und sie hat nicht gewusst wovon Du sprichst. Es gibt so viele Worte, die wir hören und doch nicht verstehen, weil sie kein Bild in uns wachsen lassen“, merkte ich an.
„Eben. Und deshalb wollte ich ihr ein Bild davon schenken“, fuhrst Du fort.
„Sie wird es vergessen haben“, sagte ich beiläufig.
„Warum glaubst Du, dass sie auf mich vergessen hat?“, fragtest Du enttäuscht.
„Ich sagte nicht, sie hätte auf Dich vergessen, sondern nur auf diese Zusage. Ihr habt Euch das ausgemacht. Gewohnheitsmäßig zückte sie ihr Smart-Phone, tippe den Termin in den Kalender und versah ihn mit ein oder zwei Erinnerungen. Die Erinnerungen erklangen, in Form kleiner, lästiger Quäktöne. Kurz sah sie auf und drückte das störende Geräusch weg. Sie hat zu tun. Immer hat sie zu tun, irgendetwas, bloß tun. bloß nicht Nichts-tun, und das praktiziert sie schon so lange, dass sie es nicht mehr anders weiß. Mehr noch, sie hat Angst vor dem anders. Wie könnte das sein. Stillsitzen. Schauen. Fühlen. Denken. Doch nichts Bestimmtes. Alles Unbestimmtheit. Sie nimmt ihren Kalender und pfercht ihn mit Terminen voll. Immer die Besorgnis im Nacken, da könnte ein weißer Fleck bleiben. Damit das nicht passiert, gibt es Alternativprogramme. Falls die eine Tätigkeit nicht möglich ist, gibt es einen Plan B, etwas, womit sie die unerwartet, unverhofft gewonnene Zeit nutzen kann. Sie hat immer alles zu Hause um zur Not einen Kuchen backen zu können. Gewonnene Zeit. Verlorene Zeit an die Alternative. Niemals darf es passieren. Nimmt doch der Schlaf schon genug Zeit weg, Lebenszeit. Dem muss sie sich, wie wir alle, unabänderlich beugen. Aber nachdem daran schon nicht zu rütteln ist, so muss zumindest alles andere gefüllt sein, alles andere genutzt werden. Lebenszeit hat nur Sinn, wenn sie tätig verbracht wird. Immer in Bewegung“, versuche ich zu erklären.
„Aber sie hat es mir versprochen“, entgegnetest Du trotzig.
„Kann sein, dass sie es versprochen hat. Sie wird es Dir erklären. Irgendetwas ist dazwischen gekommen, irgendetwas Unaufschiebbares, Unvorhergesehenes. Sie wird es wieder versprechen und wieder kalte Füße bekommen. Wenn Du wirklich willst, dass sie kommt, musst Du sie an der Hand nehmen und geleiten. Du musst ihr die Angst nehmen vor der Kontemplation. Du musst sie führen, damit sie nicht irre geht an sich selbst. Du musst ihr zu sich selbst helfen“, riet ich Dir.
„Das will ich tun“, sagtest Du fest, und endlich warst Du wieder da. Ich las die Geschichte zu Ende.

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