Bewegtes Leben
Wir saßen am Steg und ich las Dir vor. Du magst meine
Stimme. Ich nicht, aber ich muss mir ja nicht zuhören. Du magst die Art wie ich
vorlese. Ich mache Geschichten lebendig, sagst Du. Deshalb, und wohl auch weil
ich es gerne tue, lese ich Dir. „Des Kaisers neue Kleider“ las ich an diesem
Abend, doch irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren. Du warst so unruhig
und zappelig. Immer wieder ließt Du Deinen Blick über den Horizont schweifen,
als würdest Du ihn nach irgendetwas oder irgendjemanden absuchen.
„Hörst Du mir eigentlich zu?“, fragte ich schließlich.
„Natürlich höre ich Dir zu“, antwortetest Du schnell, zu
schnell.
„Und was lese ich?“, fragte ich weiter. Rasch warfst Du
mir einen Blick zu, der mir nur allzu deutlich zeigte, dass Du keine Ahnung
hattest, um dann gleich wieder wegzusehen.
„Sie kommt nicht. Dabei hat sie es mir so fest
versprochen“, entgegnetest Du unvermittelt.
„Wer kommt nicht?“, fragte ich verwirrt.
„Ich habe Dir von ihr erzählt. Sie ist beständig in
Bewegung und ich wollte ihr zeigen, dass es auch mal gut ist, nichts zu tun“,
antwortetest Du schließlich.
„Und sie hat nicht gewusst wovon Du sprichst. Es gibt so
viele Worte, die wir hören und doch nicht verstehen, weil sie kein Bild in uns
wachsen lassen“, merkte ich an.
„Eben. Und deshalb wollte ich ihr ein Bild davon
schenken“, fuhrst Du fort.
„Sie wird es vergessen haben“, sagte ich beiläufig.
„Warum glaubst Du, dass sie auf mich vergessen hat?“,
fragtest Du enttäuscht.
„Ich sagte nicht, sie hätte auf Dich vergessen, sondern
nur auf diese Zusage. Ihr habt Euch das ausgemacht. Gewohnheitsmäßig zückte sie
ihr Smart-Phone, tippe den Termin in den Kalender und versah ihn mit ein oder
zwei Erinnerungen. Die Erinnerungen erklangen, in Form kleiner, lästiger
Quäktöne. Kurz sah sie auf und drückte das störende Geräusch weg. Sie hat zu
tun. Immer hat sie zu tun, irgendetwas, bloß tun. bloß nicht Nichts-tun, und
das praktiziert sie schon so lange, dass sie es nicht mehr anders weiß. Mehr
noch, sie hat Angst vor dem anders. Wie könnte das sein. Stillsitzen. Schauen.
Fühlen. Denken. Doch nichts Bestimmtes. Alles Unbestimmtheit. Sie nimmt ihren
Kalender und pfercht ihn mit Terminen voll. Immer die Besorgnis im Nacken, da
könnte ein weißer Fleck bleiben. Damit das nicht passiert, gibt es
Alternativprogramme. Falls die eine Tätigkeit nicht möglich ist, gibt es einen
Plan B, etwas, womit sie die unerwartet, unverhofft gewonnene Zeit nutzen kann.
Sie hat immer alles zu Hause um zur Not einen Kuchen backen zu können.
Gewonnene Zeit. Verlorene Zeit an die Alternative. Niemals darf es passieren.
Nimmt doch der Schlaf schon genug Zeit weg, Lebenszeit. Dem muss sie sich, wie
wir alle, unabänderlich beugen. Aber nachdem daran schon nicht zu rütteln ist,
so muss zumindest alles andere gefüllt sein, alles andere genutzt werden.
Lebenszeit hat nur Sinn, wenn sie tätig verbracht wird. Immer in Bewegung“,
versuche ich zu erklären.
„Aber sie hat es mir versprochen“, entgegnetest Du
trotzig.
„Kann sein, dass sie es versprochen hat. Sie wird es Dir
erklären. Irgendetwas ist dazwischen gekommen, irgendetwas Unaufschiebbares,
Unvorhergesehenes. Sie wird es wieder versprechen und wieder kalte Füße
bekommen. Wenn Du wirklich willst, dass sie kommt, musst Du sie an der Hand
nehmen und geleiten. Du musst ihr die Angst nehmen vor der Kontemplation. Du
musst sie führen, damit sie nicht irre geht an sich selbst. Du musst ihr zu
sich selbst helfen“, riet ich Dir.
„Das will ich tun“, sagtest Du fest, und endlich warst Du
wieder da. Ich las die Geschichte zu Ende.
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