Gib mir nur einen Grund
Gedankenverloren durchstreifte ich die Wiese um den See,
als ich es vernahm. Ich war wohl noch einige Meter davon entfernt, denn noch
war es ganz leise, doch umso näher ich kam, desto lauter wurde es,
eindringlich, dieses Schluchzen und Wehklagen. Tief in sich verkrochen saß sie
unter einer Weide, an den Stamm gedrängt, als müsste sie Deckung suchen. Ihr
Schluchzen übertönte meine Schritte. Kurz blieb ich stehen. Vielleicht würde
sie sich ja beruhigen, aber sie schien schon lange keine Ruhe mehr gefunden zu
haben. Vorsichtig berührte ich ihren Arm. Sie schreckte auf und sah mich mit geweiteten
Augen an.
„Geh weg!“, sagte sie kurz.
„Und wenn ich nicht will? Wenn ich hier bei Dir bleiben
will? Wenn ich hier bei Dir bleiben und Dich trösten will?“, fragte ich sie.
„Das sollst Du nicht wollen, und ich will es auch nicht.
Nie wieder werde ich mich trösten lassen, nie wieder einwickeln und betören“,
entgegnete sie scharf.
„Ja, aber Du kannst doch nicht für immer hier sitzen und Dich
dem Schmerz übergeben. Du musst doch darüber hinaus gehen, wieder leben“,
erwiderte ich.
„Doch, ich kann und ich werde. Weißt Du wie oft ich das
gehört habe? Es geht ja weiter, und es wird auch alles wieder gut und Du
brauchst Dich ja nicht so gehen zu lassen. Und ich habe es geglaubt, jedes Mal,
habe wieder von vorne begonnen, um dann doch wieder so zu enden, gescheitert,
verletzt, gedemütigt. Niemals wird es anders sein, und deshalb bleibe ich
darin, um auch niemals mehr darauf zu vergessen, dass es immer so enden muss,
immer muss!“, sagte sie scharf und so, als gäbe es wirklich keine Alternative.
„Vielleicht hast Du recht. Vielleicht endet es wirklich
immer so, und doch gibt es einen Anfang und ein Dazwischen, die Zeit, in der Du
wohl auch glücklich warst und lebtest, frei und offen. Und das wirst Du nicht
mehr erleben, wenn Du im Schmerz verbleibst“, versuchte ich entgegenzuhalten.
„Natürlich war es so, aber warum dann nicht gleich im
Schmerz bleiben, wenn es doch immer darauf hinausläuft?“, fragte sie, und ich
merkte wie sie langsam ruhiger wurde, aufmerksamer.
„Weil die Zeit des Glücks, der Lebendigkeit die sein
sollte, durch die Du Dein Leben gestalten lässt und nicht von der kurzen Zeit
des Schmerzes. Lass mich Dich wieder dorthin führen“, schlug ich ihr vor.
„Warum sollte ich das tun? Warum sollte ich Dir
vertrauen? Gib nur einen Grund, nur einen einzigen Grund, warum ich mich der
Illusion hingeben sollte, dass es Zuwendung gibt ohne verletzt zu werden“,
forderte sie mich auf.
„Die Hoffnung und die Sehnsucht. Die Hoffnung, dass wir
am Glück und am Schmerz wachsen und immer mehr und mehr verstehen. Die Sehnsucht
nach dem Mehr im Leben, das es gibt und das wir uns schenken können“,
entgegnete ich.
„Das kann schon sein, aber was garantiert mir, dass Du
mich nicht verletzt?“, fragte sie weiter.
„Es gibt keine Garantien und keine Versicherungen auf
Glück oder Leben, nur unseren Zuspruch, den wir jeden Tag erneuern können, den
Schritt aufeinander zu, den wir je neu setzen können, und das Verstehen, das
wir uns immer neu erarbeiten“, meinte ich.
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