Schuld und Sühne
Zwei Frauen sitzen an einem Vormittag im Caféhaus und
unterhalten sich.
Ludmilla: Ich kann mit Fug und Recht
behaupten, ich habe die letzte Woche ein großes Werk geschaffen.
Mechthild: Mit
Fug und Recht? Sag mal, seit wann redst denn so gschwolln?
Ludmilla: Verzeih mir, meine Beste, aber ich
drücke mich gewählt aus. Schließlich bin ich unter die Literaten gegangen.
Mechthild: Du
bist also jetzt Schriftstellerin.
Ludmilla: Nein, nicht einfach
Schriftstellerin. Das nennt sich heute doch schon jede, die ein paar
zusammenhängende Sätze schreiben und einen Stift halten kann, obwohl, Stift
muss man ja nicht mehr halten können. Ich bin Literatin.
Mechthild: Und Du
hast also eine Geschichte geschrieben?
Ludmilla: Was heißt eine Geschichte! Einen
Roman, letzte Woche.
Mechthild: Du
hast also in einer Woche einen Roman geschrieben?
Ludmilla: Ich weiß, das hat lange gedauert,
aber ich musste mich dazwischen um die Wäsche kümmern.
Mechthild: Im
Gegenteil, ich bin beeindruckt, in nur einer Woche ... Und wie ist der Titel?
Ist es ein Krimi, ein Liebesroman?
Ludmilla: Er trägt den Titel „Schuld und
Sühne“.
Mechthild: Das
geht nicht.
Ludmilla: Er geht nicht, er steht, vorne auf
dem Deckblatt.
Mechthild: Du
verstehst mich falsch. Ich meinte, es gibt schon einen Roman von Fjodor
Dostojewski, der „Schuld und Sühne“ heißt.
Ludmilla: Als wenn ich das nicht wüsste! Den
habe ich ja abgeschrieben.
Mechthild: Du hast
was? Du hast ihn abgeschrieben? Das kann doch nicht sein.
Ludmilla: Ja, kaum zu glauben. Das war ein
hartes Stück Arbeit. Dieser Dostojewski, der war doch sehr ausschweifend. Also
nicht im Lebenswandel, bloß in seinen Formulierungen, und dann noch diese
russischen Namen. Da habe ich dann doch ein wenig gekürzt.
Mechthild: Du
hast allen Ernstes in Dostojewski herumgepfuscht?
Ludmilla: Was heißt da gepfuscht? Ich habe
es kompaktiert, sozusagen. Das Augenmerk auf das Wesentliche gerichtet, mit dem
Blick auf das Absolute und geleitet vom leuchtenden Stern der Ästhetik.
Mechthild: Ja,
dann hättest Du Dir eben keinen Russen ausgesucht, sondern einen Deutschen.
Ludmilla: Einen Deutschen? Du machst doch
Witze. Die Deutschen können doch keine Geschichten erzählen.
Mechthild: Mann
oder Doderer oder ....
Ludmilla: Aber die Russen, die sind doch so
herrlich melancholisch.
Mechthild: Was
rede ich denn da überhaupt! Wenn man einen Roman schreibt, dann gilt das nur,
wenn man ihn selber schreibt und nicht abschreibt.
Ludmilla: Aber der Dostojewski, der ist doch
schon seit fast 150 Jahren tot, den kratzt das nicht mehr.
Mechthild:
Dennoch, es ist sein Werk. Noch dazu ein Klassiker der Weltliteratur. Hättest
Du doch zumindest einen genommen, den keiner kennt. „Schuld und Sühne“ kennt
jeder.
Ludmilla: Jeder? Echt jeder? Warum dann ich
nicht?
Mechthild: Jeder
außer Dir eben. Das ist ein Jahrhundert-, nein mehr, ein Jahrtausendroman.
Ludmilla: Das sagte mein Verleger auch.
Mechthild: Das
glaube ich, und hat Dich nach Hause geschickt.
Ludmilla: Nein, ganz im Gegenteil. Nächste Woche
wird es erscheinen.
Mechthild: Das ist aber nicht wahr!
Ludmilla: Doch. Mein Verleger meinte genau
was Du sagtest, das wird ein Bestseller, und dabei hast Du es doch noch nicht
einmal gelesen. Bemerkenswert. Und nächste Woche schreibe ich „Krieg und
Frieden“.
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