2305 Schuld und Sühne


Schuld und Sühne


Zwei Frauen sitzen an einem Vormittag im Caféhaus und unterhalten sich.

Ludmilla: Ich kann mit Fug und Recht behaupten, ich habe die letzte Woche ein großes Werk geschaffen.
Mechthild: Mit Fug und Recht? Sag mal, seit wann redst denn so gschwolln?
Ludmilla: Verzeih mir, meine Beste, aber ich drücke mich gewählt aus. Schließlich bin ich unter die Literaten gegangen.
Mechthild: Du bist also jetzt Schriftstellerin.
Ludmilla: Nein, nicht einfach Schriftstellerin. Das nennt sich heute doch schon jede, die ein paar zusammenhängende Sätze schreiben und einen Stift halten kann, obwohl, Stift muss man ja nicht mehr halten können. Ich bin Literatin.
Mechthild: Und Du hast also eine Geschichte geschrieben?
Ludmilla: Was heißt eine Geschichte! Einen Roman, letzte Woche.
Mechthild: Du hast also in einer Woche einen Roman geschrieben?
Ludmilla: Ich weiß, das hat lange gedauert, aber ich musste mich dazwischen um die Wäsche kümmern.
Mechthild: Im Gegenteil, ich bin beeindruckt, in nur einer Woche ... Und wie ist der Titel? Ist es ein Krimi, ein Liebesroman?
Ludmilla: Er trägt den Titel „Schuld und Sühne“.
Mechthild: Das geht nicht.
Ludmilla: Er geht nicht, er steht, vorne auf dem Deckblatt.
Mechthild: Du verstehst mich falsch. Ich meinte, es gibt schon einen Roman von Fjodor Dostojewski, der „Schuld und Sühne“ heißt.
Ludmilla: Als wenn ich das nicht wüsste! Den habe ich ja abgeschrieben.
Mechthild: Du hast was? Du hast ihn abgeschrieben? Das kann doch nicht sein.
Ludmilla: Ja, kaum zu glauben. Das war ein hartes Stück Arbeit. Dieser Dostojewski, der war doch sehr ausschweifend. Also nicht im Lebenswandel, bloß in seinen Formulierungen, und dann noch diese russischen Namen. Da habe ich dann doch ein wenig gekürzt.
Mechthild: Du hast allen Ernstes in Dostojewski herumgepfuscht?
Ludmilla: Was heißt da gepfuscht? Ich habe es kompaktiert, sozusagen. Das Augenmerk auf das Wesentliche gerichtet, mit dem Blick auf das Absolute und geleitet vom leuchtenden Stern der Ästhetik.
Mechthild: Ja, dann hättest Du Dir eben keinen Russen ausgesucht, sondern einen Deutschen.
Ludmilla: Einen Deutschen? Du machst doch Witze. Die Deutschen können doch keine Geschichten erzählen.
Mechthild: Mann oder Doderer oder ....
Ludmilla: Aber die Russen, die sind doch so herrlich melancholisch.
Mechthild: Was rede ich denn da überhaupt! Wenn man einen Roman schreibt, dann gilt das nur, wenn man ihn selber schreibt und nicht abschreibt.
Ludmilla: Aber der Dostojewski, der ist doch schon seit fast 150 Jahren tot, den kratzt das nicht mehr.
Mechthild: Dennoch, es ist sein Werk. Noch dazu ein Klassiker der Weltliteratur. Hättest Du doch zumindest einen genommen, den keiner kennt. „Schuld und Sühne“ kennt jeder.
Ludmilla: Jeder? Echt jeder? Warum dann ich nicht?
Mechthild: Jeder außer Dir eben. Das ist ein Jahrhundert-, nein mehr, ein Jahrtausendroman.
Ludmilla: Das sagte mein Verleger auch.
Mechthild: Das glaube ich, und hat Dich nach Hause geschickt.
Ludmilla: Nein, ganz im Gegenteil. Nächste Woche wird es erscheinen.
Mechthild:  Das ist aber nicht wahr!
Ludmilla: Doch. Mein Verleger meinte genau was Du sagtest, das wird ein Bestseller, und dabei hast Du es doch noch nicht einmal gelesen. Bemerkenswert. Und nächste Woche schreibe ich „Krieg und Frieden“.

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