Sommerbeginn
Jeden Tag gingen sie hier spazieren, seit Jahren schon,
er auf seiner Seite des weitläufigen Parks, der die Stadt in zwei Hälften
zerteilte, und sie auf ihrer. Niemals wären sie sich wohl begegnet, wenn sie
nicht beschlossen hätten, unabhängig voneinander, den bekannten, immer gegangen
Weg zu verlassen, und einen Seitenweg einzuschlagen. Auf einer Bank ließ sie
sich nieder. Vielleicht hatte sie ihre Kräfte überschätzt, doch dieser junge
Sommertag verführte zum Leichtsinn, oder zumindest zu dem was man in ihrem
Alter Leichtsinn nennen könnte. Wenn man über 80 ist sollte man mit seinen
Kräften haushalten. Bloß ein wenig verschnaufen, wollte sie auf dieser Bank.
Aus dem nämlichen Grund ließ er sich, ebenfalls sich überschätzend, auf der
Bank nieder. Und das warme Sonnenlicht tanzte über den Boden. So fanden sie
zueinander, verliebten sich, liebten sich. Niemals mehr hätten sie es für
möglich gehalten, in ihrem Alter. Da macht man so etwas doch nicht mehr. „Oma,
Du bist übermütig wie ein junges Ding!“, warf ihr ihre Enkelin vor, ein
vorlautes Mädchen von knapp zwanzig Jahren, „Oma, Du führst Dich auf wie ein
Teenager!“ „Warum meinst Du das?“, fragte ihre Großmutter, versonnen lächelnd.
„Weil man so etwas nicht macht, in Deinem Alter. Das widerspricht der ....“,
antwortete sie, das rechte Wort suchend. „Widerspricht der Würde?“, half die
Großmutter aus, „Seit wann ist Liebe gegen die Würde?“ „Liebe ist ja ok, aber
das sollte doch anders sein, als wenn ihr jung seid. Wenn man alt ist, dann
liebt man seine Familie und die Freunde und wenn einen Mann, dann platonisch“,
erklärte sie überzeugt. „Du meinst, wenn man alt ist, dann hat man keine
körperlichen Bedürfnisse mehr?“, fragte die Großmutter weiter. „Händchenhalten
und so, das ist ja ok, aber ...“, meinte die Enkelin, und sah ihre Großmutter
mit vor Schrecken geweiteten Augen an, „Ihr, ihr habt doch nicht ...“ „Was
sollen wir nicht haben? Miteinander geschlafen?“, fragte die Großmutter, immer
noch lächelnd. Nein, sie war ihrer Enkelin nicht böse. Wahrscheinlich hätte sie
es auch nicht verstanden, als sie so jung war. Man hat ja immer diese Bilder im
Kopf von dem, was sich für ein bestimmtes Alter gehörte, und Sex mit über 80,
das war ein falsches Bild, wenn die Haut runzelig und verwelkt war. „Oma, das
hat doch keine Zukunft, weil, wer weiß schon wie lange ...“, versuchte die
Enkelin zu erklären. „Wie lange wir noch zu leben haben?“, ergänzte die
Großmutter den Satz, „Doch in der Liebe geht es nicht um die Zukunft, sondern
um die Gegenwart, und umso mehr wir uns dem Tod nähern, desto wichtiger wird
der Moment. Wir leben nicht mehr in der Zukunft, sondern in dem Moment, der uns
geschenkt wird. Wir haben keine Zeit mehr davonzulaufen. Deshalb bleiben wir“,
versuchte die Großmutter zu erklären. Wahrscheinlich hatte ihre Enkelin nicht
verstanden, aber das tat nichts zur Sache. Vielleicht war es ihr letzter
Sommer, vielleicht auch nicht. Niemand konnte das sagen, aber auf jeden Fall
war es ihre Chance. Ein letztes Mal zu lieben, als wenn der Frühling mitten im
Winter begänne, und wenn es nur für diesen Moment war. So viel erlebt in einem
sich über Jahrzehnte spannenden Leben, und doch noch in der Lage sich
hinzugeben, sich zu verlieren und einen Neuanfang zu wagen. „War es denn
wirklich so? Konnte das denn sein?“, fragten sie sich zunächst selbst immer
wieder. So beschlossen sie mit dem Fragen aufzuhören und zu leben zu beginnen,
noch einmal zu beginnen. Was auch immer sie in diesen Teil des Parks geführt
und damit zusammen geführt hatte, einen Teil des Parks, den sie noch nie
betreten hatten, es hatte dieses Zusammentreffen gewollt. Und das Glück, dieses
späte, gerade durch die vielfältige Erfahrung, umso mehr geschätzte Glück, ließ
sie aufleben sich so jung fühlen, wie es eben der Sommer war.
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