Berühren verboten! (Teil 1)
Geschichte und Religion unterrichtete ich an dieser Schule seit
ungefähr einem halben Jahr. Nachdem ich also immer noch neu und relativ
unerfahren war, vertrauten sie mir nur die Kleinen an, zumindest in Geschichte,
denn in Religion, da war ich doch eher unbehelligt, nachdem das Fach eher als
Überbrückung gesehen wird. Für mich spielte es keine Rolle, denn ich
betrachtete alle meine Klassen wohlwollend und als eine eigene Herausforderung,
denn den verschiedensten Persönlichkeiten, die sich darin fanden, war es vor
allem die Gruppendynamik, die mich interessierte und dafür sorgte, dass jeder
Tag spannend und abwechslungsreich verlief. Natürlich bereitete ich mich vor,
so gewissenhaft wie es nur ging, aber dennoch konnte jede Stunde auch ganz
anders verlaufen. Ich versuchte soweit wie möglich Rücksicht zu nehmen, indem
ich die Probleme, die es in der Klasse gab, thematisierte, schaute, ob sie
Schularbeit hatten an diesem Tag oder versuchte einfach so nahe wie möglich an
der Lebenswirklichkeit meiner Schüler zu bleiben. Das war es, was für mich zählte. Probleme
hatte ich höchstens mit dem Direktor, einem alten Mathematik-Lehrer, der auf
Drill und Ordnung setzte, und meinte, dass ich mit meinem offenen Unterreicht
nichts als Chaos verbreitete. Was ihn jedoch überzeugte war das fundierte
Wissen meiner Schüler. Aber auch mit den Eltern war es manchmal nicht leicht.
„Sie sollten meinem Sohn doch Manieren beibringen!“, bekam ich aufgetragen für
Religion, woraufhin ich erklärte, es sein kein Benimm-Unterricht. Oder „Sie
lesen mit den Kindern die Bibel. Das geht doch nicht, wir sind katholisch. Das
machen nur die Evangelischen. Damit setzen Sie den Kindern nur Flausen in den
Kopf!“, meinte ein Vater zu mir. Ich ließ mich davon nicht beirren, und beließ
es dabei die Schüler im Zentrum meiner Arbeit zu sehen. Alles andere ließ sich
ertragen.
Eines Tages, es war ein Donnerstag, hatte ich in der dritten
Stunde Religionsunterricht in einer ersten Klasse. Ich merkte sofort, dass
etwas nicht stimmte, als ich die Klasse betrat. Die Schüler waren teilweise
überdreht, teilweise einfach nur traurig, doch Max in der letzten Reihe war wie
paralysiert. Sie erzählten mir, dass sie in der Stunde zuvor die
Englisch-Schularbeit zurückbekommen hatten, und die war allgemein sehr schlecht
ausgefallen, nur Max, der war am schlimmsten dran, denn seine Mutter kam aus
Schottland, und er wagte es nicht mit dieser Note nach Hause zu gehen, denn sie
würde ihn lynchen. Schließlich verkündete sie schon seit mehreren Jahren stolz,
dass ihr kleiner Sohn Englisch sprach wie ein Native Speaker. Das mochte wohl
so sein, aber genau dieses Können hatte ihn leichtsinnig gemacht und ihn dazu
veranlasst das Lernen für diese Schularbeit ein wenig zu leicht zu nehmen. Ich
ging also zu ihm, und sagte ihm, dass eine negative Note doch kein Beinbruch
sei. Verdattert sah er mich an. Nein, er hatte kein Nichtgenügend, sondern ein
Gut, erklärte er mir. Jetzt war es an mir die Welt nicht mehr zu verstehen.
„Aber meine Mama erwartet, dass ich in Englisch perfekt bin, denn damit prahlt
sie die ganze Zeit, und wenn ich das nicht bin ...“, er sprach nicht weiter,
denn jetzt endlich liefen die Tränen. „Soll mich mit Deiner Mutter reden?“, bot
ich ihm an, „Ich rufe Deine Mutter in der Pause an.“ Und weil er so bitterlich
weinte, sich kaum beruhigen konnte, wohl auch um meinem Angebot Nachdruck zu
verleihen, legte ich meine Hand auf die seine. Da wurde er langsam ruhiger.
„Das würden Sie für mich tun?“, fragte er endlich. „Ja, natürlich“, antwortete
ich fest. In der nächsten Pause rief ich seine Mutter an, und es gelang mir
tatsächlich sie zu ein wenig Einsicht zu bewegen. Max war so überglücklich,
dass er einen Luftsprung machte. Er hatte sein Lachen wiedergefunden, und ich
war froh, dass mir dies gelungen war.
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