Offenbarung
Von Tag zu Tag fiel es Alexander schwerer in die Schule zu gehen.
Die bloße Abwendung seiner Klassenkameraden hatte sich mittlerweile in offene
Ablehnung gewandelt. Schikanen und Bösartigkeiten standen an der Tagesordnung.
Er fand Rückhalt bei seiner Familie und er hatte nicht die Möglichkeit auf eine
andere Schule auszuweichen. Immer mehr schloss er sich in sich ein und lebte
seine Kreativität. Philipp hatte ganze Arbeit geleistet. Jeden Freitag atmete
er auf, weil er nun zumindest zwei Tage ohne Anfeindungen erleben würde. Den
Samstagabend verbrachte er nach wie vor mit dem Verkauf seiner Figuren. An
diesem Abend hatte er alle Figürchen verkauft, und überlegte gerade womit er
seine Mutter überraschen könnte, nachdem er weit mehr eingenommen hatte, als
geplant. Seine Mutter kaufte nie was für sich selbst, immer nur für Alexander
und seine Brüder. Es war spät geworden. Wenige Menschen waren auf den dunklen
Straßen unterwegs, als er am Gehsteigrand eine in sich zusammengesunkene
Gestalt sitzen sah. Gerade hatten sich noch mehrerer andere Gestalten darüber
gebeugt, doch als Alexander näher kam, verschwanden diese Gestalten. Alexander
kniete neben der Gestalt, die sich nicht mehr rührte, der Kopf vornüber
gesunken. Es war Philipp, erkannte Alexander schaudernd. Warum nur musste er
ihm ständig über den Weg laufen? Warum hatte er noch nicht einmal außerhalb der
Schule seine Ruhe vor ihm? Da saß er nun, der Coole, der Reiche, der Starke,
saß da, bewegungsunfähig und wehrlos. Jetzt wäre seine Chance ihm die erlittene
Schmach zurückzuzahlen. Vielleicht sollte er ihn auch einfach liegenlassen.
Seine sogenannten Freunde hatten ja auch das Weite gesucht. Das würde Alexander
auch tun. Was ging er ihn auch an? Er war schon an Philipp vorbeigegangen, fest
entschlossen ihn da liegen zu lassen, sich nicht um ihn zu kümmern. Warum auch,
er hätte es genau so gemacht. War Philipp es doch gewesen, der Alexanders
Schulleben zu einem Spießrutenlauf werden ließ. Aber nach wenigen Schritten drehte
er um und ging zurück. Noch konnte Alexander nicht abschätzen ob es gut war,
was er da tat, wenn er Philipp nun hochstemmte und mit nach Hause nahm, aber er
brachte es einfach nicht fertig Philipp einfach dort liegen zu lassen.
Am nächsten Morgen erwachte Philipp mit rasenden Kopfschmerzen.
Doch wo war er? Kinderstimmen drangen an sein Ohr, heitere, freie, unbelastete
Kinderstimmen. „Ach Du bist ja munter“, hörte er eine bekannte Stimme und als
er müde hochsah erkannte er Alexander. „Wo bin ich? Wie komme ich hierher?“,
fragte er schwach. „Ich habe Dich gestern auf der Straße aufgelesen und
mitgenommen, zum Ausnüchtern“, antwortete Alexander ernst. „Ich war nicht
betrunken, bloß dieses Scheißzeug ... Aber warum hast Du das getan, wo ich Dich
so mies behandelt habe?“, fragte Philipp. „Weil ich Dich doch einfach nicht
liegen lassen konnte“, antwortete Alexander wahrheitsgemäß. „Ich wollte Dich
kaputt machen, weil ich kaputt bin. Dabei habe ich Dich von Anfang an bewundert
und beneidet“, gab Philipp unumwunden zu. „Du mich beneidet? Aber warum?“,
frage nun Alexander verwirrt. „Du hast etwas, was ich nicht kannte, und dann
das Kreative. Eigentlich bewundere ich es. Du bist ein ganz besonderer Mensch.
Ich dachte, Du würdest mich nicht mögen, und so habe ich Dich angegriffen, um
nicht von Dir abgelehnt zu werden“, erklärte Philipp, und Alexander setzte sich
zu ihm ans Bett und sah ihn an. „Weißt Du, es ist traurig, dass Du meinst,
Zuneigung ist vom Verdienst abhängig. Du kannst viel mehr als Du Dir selbst zutraust,
viel mehr als Du wusstest“, sagte Alexander nachdenklich. „Meinst Du?“,
erwiderte Philipp, und seine Stimme klang hoffnungsfroh. „Ich merke es, mit
jedem Wort, dass Du aufbrichst und wirst“, entgegnete Alexander, indem er
Philipps Hand nahm. „Willst Du mich unterstützen?“, fragte Philipp weiter. „Ja,
das würde ich gerne. Und Du, willst Du mich ab jetzt wie einen Menschen
behandeln?“, stellte Alexander entgegen. „Mehr als das, als den Menschen in
meinem Leben, der mich gerettet hat, zu mir und meinen Möglichkeiten befreite“,
sagte Alexander wahrheitsgemäß, und als sie sich küssten wussten sie, dass es
wahr war.
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