Eine verhängnisvolle Umarmung
Max verstand die Welt nicht mehr und niemand von all den angeblich
so gescheiten Menschen, die ihn umgaben, konnte es ihm erklären. Trotzdem er
erst elf Jahre war, spürte er aus all ihren Worten nur eines, pure
Hilflosigkeit. Keine Erklärung, aber umso mehr Empörung über seine Tat. Aber
was hatte er getan? Wenn er doch wenigstens etwas wirklich Schlimmes angestellt
hätte, ja dann würde er es einsehen, dass er jetzt hier in dieser fremden
Klasse sitzen musste, während all die anderen aus seiner Klasse auf dem Weg zur
Schulsportwoche waren. Sonst hatte er solche Restriktionen nur erlebt, wenn
jemand verletzt oder etwas zerstört wurde, aber er hatte weder jemanden
verletzt noch etwas zerstört, ganz im Gegenteil, er hatte Zuneigung gezeigt und
geheilt. Dennoch, als sein Klassenvorstand von seiner Tat erfuhr, wohlgemerkt
durch eine wohlmeinende Mitschülerin, die sich hämisch ins Fäustchen lachte
über ihre Tat, die nun dazu führte, dass er alleine nicht mitfahren durfte.
„Frau Professor, der Max hat seine Freundin geküsst!“, posaunte
Vera lautstark aus, woraufhin Max von seinem Klassenvorstand aufgefordert wurde
vor die Klasse zu treten und Rede und Antwort zu stehen. Dabei war doch alles
ganz anders gewesen. Ines, ein Mädchen aus der Parallelklasse war seit ungefähr
zwei Wochen seine Freundin. Er hatte sie gefragt und sie sagte ja. Max war
überglücklich und verzierte seine Hefte mit diesem kleinen, zarten Namen, Ines.
Sie war ein schüchternes, zurückhaltendes Mädchen mit langen dunklen Haaren,
und ihm war es gelungen ihr Herz zu erobern. Von da an standen sie jede Pause
zusammen am Gang und tuschelten. Max war es egal ob die anderen bereits über
ihn redeten, weil er ja eigentlich nicht cool war, so am Gang abzuhängen und zu
tratschen wie es sonst nur die Mädchen untereinander tun. Max war es egal, denn
er fühlte sich wohl bei Ines, einfach nur unheimlich wohl. Er konnte nicht
sagen warum, und er fragte auch nicht danach. Es war so, und so wie es war, war
es gut. In jener Pause, in der er sie angeblich geküsst hatte, kam sie sehr
traurig aus der Klasse. Er sah es sofort, dass da irgendetwas nicht stimmte und
frage was los sei. Sie erzählte ihm, dass ihr Hund eingeschläfert werden
musste. Sicher, ihr Hund war schon alt gewesen und krank, aber sie war mit ihm
aufgewachsen und sie hing an ihm. Spontan nahm Max sie in den Arm. Er wusste
nicht was er sagen sollte. Es gibt Dinge, auf die bereitet eine keine Schule
der Welt und schon gar kein Erwachsener vor. Die Konfrontation mit dem Tod, die
schieben alle auf die Seite und reden nicht darüber, als würde es ihn nicht
geben, dabei ist er doch immer irgendwie präsent. Max dachte an seine Mutter,
die lange im Krankenhaus war und er hatte große Angst gehabt, sie würde nicht
mehr nach Hause kommen. Und dann fiel ihm Raphael ein, sein bester Freund,
dessen Eltern sich vor kurzem getrennt hatten. Ist das nicht auch irgendwie ein
kleiner Tod, wenn man von einem Menschen getrennt wird, den man liebt und man
kann gar nichts dafür? Raphael hätte auch eine Umarmung gutgetan, aber das
wagte Max nicht. Bloß ein Schulterklopfen war drinnen. Aber Ines konnte er
umarmen, und er spürte, dass es ihr gut tat. Nein, er konnte ihr den Schmerz
nicht abnehmen, aber er konnte ihr wortlos sagen, dass er sie hielt und
verstand.
„Und wegen Deines ungehörigen Betragens fährst Du nicht mit auf
die Schulsportwoche“, resümierte sein Klassenvorstand. Seine Eltern wurden
verständigt und konnten nichts dagegen machen.
Max verstand die Welt nicht mehr, und niemand konnte es ihm
erklären.
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