Der Lottoschein
An diesem Samstag im Mai beschloss meine Mutter Lotto zu spielen,
zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben, denn eigentlich war sie eine
sparsame Frau und ein klein wenig mathematisch begabt. Sie pflegte zu sagen,
dass die Wahrscheinlichkeit von einem Flugzeug in der U-Bahn getroffen zu
werden größer sei als die einen Lottogewinn zu machen. Das war natürlich
übertrieben, denn schließlich war die Wahrscheinlichkeit größer als null, aber
es war sehr anschaulich. Dennoch, an diesem Tag sprang sie über ihren Schatten
und nahm sich einen Lottoschein aus der Trafik mit. Einen Tipp wollte sie
spielen. Sie konnte nicht sagen warum gerade an diesem Tag. Sie tat es einfach.
Und auch das war sonst nicht ihre Art, denn sie hielt nicht viel von
Spontanität. Von Beruf her technische Zeichnerin, war sie es gewohnt auch im
Alltag so viel wie möglich zu planen und dem Ungewissen aus dem Weg zu gehen.
Das ging sehr gut. Eigentlich wollte sie Architektin werden, aber technische
Zeichnerin, das war schon das höchste der Gefühle für ein Mädchen zu ihrer
Zeit. Nachdem sie etliche Jahre in einem Planungsbüro gearbeitet hatte,
heiratete sie meinen Vater, der zufällig Architekt war. Von da an arbeiteten
sie gemeinsam. Meine Mutter hatte zwar nicht Architektur studiert, aber durch sorgfältige
Eigenstudien war sie wohl in der Lage jedem studieren Architekten das Wasser zu
reichen. Dennoch gilt das Selbststudium nichts neben einem richtigen Diplom.
Meinem Vater kam dies wohl recht gelegen, denn er konnte ihre Arbeitskraft in
Anspruch nehmen, sie aber trotz ihrer Kompetenz wie einen technischen Zeichner
bezahlen. Meine Mutter fand sich damit ab und blieb sparsam. Aber an diesem
Samstag im Mai schlug sie über die Strenge, ihre persönliche und füllte einen
Lottoschein aus, also einen einzigen Tipp. So saß sie über den Schein gebeugt
und überlegte welche Zahlen sie ankreuzen sollte. Endlich hatte sie welche
gefunden, die ein schönes Muster ergaben und malte sorgfältig ihre Kreuzchen
hinein. Zwei Minuten vor sechs war es bereits, als sie sich auf den Weg in die
Trafik machte. „Wenn ich es schaffe bevor sie schließt, dann ist es ein Omen,
dann gewinne ich“, sagte sie sich, und betrat die Trafik tatsächlich
rechtzeitig. Der Lottoschein wurde sorgfältig in einer Hülle abgelegt und in
ihrem Nachtkästchen verwahrt. Jeden Abend von da an sah sie sich den Schein an.
„Was wäre, wenn ich gewonnen hätte?“, fragte sie sich. Es waren 40 Millionen
Schilling im Topf. „Wenn ich diese gewinnbringend anlegen würde, so erhielte
ich jedes Jahr 2 Millionen Schilling Zinsen, und wenn ich davon nur 10% für
mich verwende, so vermehrt sich das Kapital“, überlegte sie, dachte an Reisen
und ein Studium, dachte an den Besuch von kulturellen Veranstaltungen, und
jedes Mal, legte sie ihn wieder in die Schublade, um am nächsten Abend
weiterzuträumen. So kam es dazu, dass sie den Schein niemals einlöste und
derselbe in die Verlassenschaft fiel. Niemand legte Wert darauf ihn zu
bekommen. So nahm ich ihn, denn es war für mich eine Erinnerung an meine
Mutter. Ich habe eine Schwäche für solche Kleinigkeiten. Niemals hatte meine
Mutter nachgesehen ob sie gewonnen hatte, nur davon geträumt, was wäre wenn sie
gewonnen hätte. Das ließ mir nun keine Ruhe und ich begann zu recherchieren,
und erkannte, meine Mutter hatte damals die richtigen Zahlen angekreuzt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen