1406 Verlassen (Teil 1)

Verlassen (Teil 1)


Jeden Tag ging ich an dem Spielplatz vorbei, jeden Tag zwei Mal, ein Mal morgens und ein Mal abends, wenn ich mit dem Hund spazieren ging. Jeden Tag, zumindest während der warmen Zeit des Jahres, erlebte ich das selbe Bild. Morgens war der Spielplatz verlassen und menschenleer. Abends hingegen tummelten sich Kinder auf den diversen Geräten und Mütter saßen auf den Bänken, tranken Kaffee und tratschten. Alles wirkte nach einer großen glücklichen Familie. Ab und an schrie ein Kind oder es weinte, natürlich, das kam vor, und beunruhigte mich nicht weiters. Nicht einmal, dass ich automatisch aufhorchte, wenn ein Kind „Mama“ rief, diesen universellen Titel, den ich auch mit Stolz trage. Gleichsam einem Reflex folgend sah ich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dann erst die Überlegung, dass dieser Ruf nicht mir galt, nicht mir gelten konnte, denn so universal dieser Titel auch war, so einzigartig und persönlich war er gleichzeitig. Erst der Reflex und dann erst die Überlegung, meine Kinder waren nicht da. Ich blieb stehen, und sah den Kindern beim Spielen zu, nachdem ich bereits seit Monaten einfach immer nur vorbeigegangen war, blieb ich erstmals bewusst stehen und sah den Kindern beim Spielen zu. Die Mütter interessierten mich nicht weiters, außer wenn sie mit ihren Kindern in Interaktion traten. Irgendein Kind schreit, und sofort läuft die Mutter los. Nimmt es in den Arm, tröstet, bläst auf Wunden, und manchmal ist einfach nichts.

Früher dachte ich, das Kind will die Mutter ärgern, will sehen wie weit es gehen kann, wie oft es schreien kann, bis der Mutter die Geduld reißt, doch dann versuchte ich vom Kind her zu denken. Es sitzt da in der Sandkiste oder auf der Rutsche – und es bekommt Angst. Keine bestimmte, zielgerichtete, sondern diese plötzliche Urangst verlassen zu werden. Die Mutter kommt gelaufen, und nimmt das Kind in den Arm. Sofort ist alles vergessen, alles in Ordnung. Bekommt das Kind diese Versicherung, so wird es immer seltener rufen müssen, immer seltener von dieser Unsicherheit überfallen werden, und letztlich wird es einfach darauf vertrauen können, ohne sich vergewissern zu müssen. Es wird die Mutter dann nur mehr dann in Anspruch nehmen, wenn es wirklich notwendig ist. Und dann gibt es Kinder, die hören auch auf zu schreien, weil niemand auf ihren Schrei reagiert, hören auf sich bemerkbar machen zu wollen, weil niemand ihnen Beachtung schenkt. Kinder, die wissen, dass man ihnen zuhört weinen laut und vernehmlich. Es macht Sinn, denn es kommt jemand, der sie tröstet. Kinder, die die Erfahrung machen mussten, dass niemand reagiert, weinen leise oder hören ganz damit auf. Es macht keinen Sinn, und jedes Mal, wenn sie sich bemerkbar machen und es niemand hört, ist es ein Stich ins Herz. Leise zu sein bedeutet für diese Kinder sich zu schützen, vor der eigenen Enttäuschung. So gab es auch auf diesem Spielplatz Kinder, deren Mütter immer sofort aufsprangen, manche, die sich länger Zeit ließen, aber ich sah keine einzige, die gar nicht reagierte. Ich freute mich schon, dass ich mich geirrt hatte, dass es solche Mütter gar nicht gab, bis ich herausfand, dass dies einen ganz anderen Grund hatte, der so naheliegend und aufdringlich war, und dennoch meinem Denken so fremd, dass er mir erst gar nicht in den Sinn kam.

Wieder einmal war ich beim Spielplatz stehen geblieben und beobachtete das Treiben am Spielplatz. Plötzlich setzte ein starker Wind ein, die Sonne versteckte sich hinter einer Wolke, und von einer auf die andere Minute wurde es spürbar kälter. In Windeseile verließen die Kinder mit ihren Müttern den Spielplatz, wobei die Mütter wohl mit heißer Schokolade oder ähnlichen Schleckereien lockten, da die Kinder sich nicht so leicht vom Wetter beirren ließen. Allerdings durften die auch spielen, und mussten nicht beim Herumsitzen und Tratschen frieren. Doch die Versprechungen zeigten Wirkung und innerhalb weniger Minuten war der Spielplatz wie leergefegt. Ich wollte auch schon weitergehen, als ich ein kleines Mädchen entdeckte, das nun ganz alleine in der Sandkiste saß und unbeirrt weiterbaute. Dieses Mädchen mit den langen blonden Haaren, war völlig konzentriert auf das, was es tat, doch da war keine Mutter mehr.

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