Verlassen (Teil 2)
„Setz Dich
da hin und warte. Hier, ich drehe den Fernseher auf. Sei ein braves Mädchen,
ich muss arbeiten, aber ich komme bald wieder“, hörte ich die Stimme meiner
Mutter in meinem Kopf, und ich ließ mich hinsetzen, da auf die Bank. Ja, ich
wollte ein braves Mädchen sein und warten, wollte warten bis sie wiederkam. Meine
Mutter hatte so viel um die Ohren, musste so hart arbeiten, da wollte ich ihr
keinen Kummer bereiten. Ich wollte sitzen bleiben und warten. Nur noch eine
kleine Weile, dann kommt sie, versuchte ich mich aufzumuntern.
„Ach jetzt
ist sie eingeschlafen. Dabei habe ich
sie doch gebeten zu warten, nur eine kleine Weile. Was so spät schon? Aber
trotzdem, sie hätte warten können, schläft einfach so ein!“, hörte ich die
Stimme meiner Mutter im Halbschlaf. Ich war kein braves Mädchen, dabei hätte
ich doch so gerne eines sein wollen. Ich war eingeschlafen, hatte nicht
gewartet, einfach so eingeschlafen.
Das Mädchen
mit den langen, blonden Haaren ließ sich vom Wetter nicht beirren, sondern
baute weiter in der Sandkiste, als würde sie die Welt um sich gar nicht wahrnehmen,
aber warum sollte man sich auf eine Welt wahrnehmend einlassen, die einen
selber nicht wahrnahm, die einen alleine ließ. Sie hatte sich offenbar
eingerichtet in ihrem Alleine-sein, eingerichtet im Unabänderlichen. Kinder
können etwas, was wir Erwachsenen oft nicht fertigbringen. Sie finden sich ab.
Immer und immer wird sie es versucht haben, und immer und immer wieder wurde
sie zurückgestoßen. Irgendwann resignierte sie. Jetzt ist die Welt die
Sandkiste vor ihr und darin das was sie baut. „Ein so braves, ruhiges Kind“,
würden viele sagen, „Die kann sich ja ganz alleine beschäftigen, nicht so wie
diese verzogenen Gören, die ständig Entertainment und Unterhaltung brauchen.“
Es tönt mir in den Ohren, und macht mich krank. „Seht ihr denn nicht, dass dieses
Kind nicht brav ist, sondern zermürbt und zerstampft vom Leben, ja, bereits in
diesem Alter, alleingelassen, verlassen und verunsichert. Und vielleicht wird
sie genau aus diesem Grund, aus dem was ihr Brav-sein nennt und nur eine Ruhe
ist, die es gibt, weil den Ruf niemand hört, vielleicht wird sie genau aus
diesem Grund irgendwann ihre Mutter mit der Schere erstechen oder sich selbst
mit einer Giftnadel, langsam, aber unausweichlich.“
„Setz Dich
da hin und warte. Hier, ich drehe den Fernseher auf. Sei ein braves Mädchen,
ich muss arbeiten, aber ich komme bald wieder“, höre ich die Stimme meiner
Mutter immer noch, und ich wollte brav sein.
„Wenn Du
traurig bist, dann hole Dir Schokolade“, setzt sie noch hinzu, und ich hole mir
Schokolade, wenn ich traurig bin oder wütend oder einfach nur allein.
Schokolade tröstet so wunderbar, und ich suche immer öfter Trost, aber nur, bis
meine Mutter wieder da ist. Sie kommt ja bald wieder, und sie freut sich, wenn
ich dann da bin, freut sich, wenn ich auf sie gewartet habe, und ich will ihr
Freude bereiten.
„Gut, bleib
da sitzen und warte“, sagt meine Mutter, und es hallt.
„Ich will
Dich so gerne umarmen“, höre ich mich, aber nur dieses eine Mal.
„Später, ich
habe keine Zeit. Was willst Du nur immer von mir? Siehst Du nicht, dass ich
völlig ausgelaugt bin?“, entgegnet sie.
Das blonde
Mädchen sitzt in der Sandkiste und spielt, doch plötzlich sieht sie auf, sieht
in meine Richtung. Zuerst wirkt es so, als würde sie durch mich hindurch in die
Ferne blicken, doch dann ruht ihr Blick, auf dem Hund. Er sitzt ruhig da und
wartet. Es ist ihm einerlei, so lange er jemanden um sich hat, einerlei wo er
ist oder was geschieht. Die Ruhe, die er ausstrahlt, tut ihr gut, denke ich,
dem blonden, kleinen, alleingelassenem Mädchen. Ich winke ihr zu, und langsam
und vorsichtig kommt sie näher. Zwei Meter von meinem Hund entfernt bleibt sie
stehen. Er mustert sie, schnuppert ihren Duft in der Luft. „Hallo!“, sage ich.
„Darf ich ihn mal streicheln?“, fragt sie mich leise. „Ja, darfst Du, wenn Du
möchtest“, antworte ich lächelnd und knie mich neben ihn, während das Mädchen
näher kommt und sachte und langsam ihre kleine Hand auf seinen Kopf legt, sie
über seinen Hals hinuntergleiten lässt. Ruhig und bewegungslos lässt er es
einfach geschehen, als würde er spüren, dass eine rasche Bewegung seinerseits
dieses zarte, unsichere Wesen verschrecken würde. „Wie heißt er?“, fragt sie
mich. „Ayo“, antworte ich knapp, „Ayo bedeutet Glück.“ Da lächelt sie. „Das ist
schön. Heute habe ich Glück“, und mit diesen Worten springt sie auf und läuft
davon.
„Bleib schön
da sitzen und warte auf mich. Es ist nur mehr eine kleine Weile“, sagt meine
Mutter, und ich möchte noch immer brav sein.
„Ich würde
so gerne hinausgehen und mein Leben beginnen“, werfe ich ein.
„Ja, dann
geh doch. Ich wusste, dass Du nicht warten kannst. Du bist nicht brav. Du bist
undankbar. Immer war ich für Dich da“, entgegnet sie kopfschüttelnd.
„Gut, ich
warte, dass Du da bist, wenn Du kommst. Du warst immer für mich da“, höre ich
mich traurig sagen, und dabei wollte ich nur brav sein und warten und dankbar.
Leben geht später auch noch.
Am nächsten
Tag bleibe ich wieder am Spielplatz stehen. Meine Augen suchen sie, und finden
sie wieder in der Sandkiste unter all den anderen Kindern. Doch diesmal ist sie
nicht ruhig. Als sie mich entdeckt springt sie auf und läuft auf mich zu.
Wortlos umarmt sie Ayo, und ich sehe, dass sie weint.
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