1806 Verlassen (Teil 2)



Verlassen (Teil 2)


„Setz Dich da hin und warte. Hier, ich drehe den Fernseher auf. Sei ein braves Mädchen, ich muss arbeiten, aber ich komme bald wieder“, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, und ich ließ mich hinsetzen, da auf die Bank. Ja, ich wollte ein braves Mädchen sein und warten, wollte warten bis sie wiederkam. Meine Mutter hatte so viel um die Ohren, musste so hart arbeiten, da wollte ich ihr keinen Kummer bereiten. Ich wollte sitzen bleiben und warten. Nur noch eine kleine Weile, dann kommt sie, versuchte ich mich aufzumuntern.
„Ach jetzt ist sie eingeschlafen. Dabei  habe ich sie doch gebeten zu warten, nur eine kleine Weile. Was so spät schon? Aber trotzdem, sie hätte warten können, schläft einfach so ein!“, hörte ich die Stimme meiner Mutter im Halbschlaf. Ich war kein braves Mädchen, dabei hätte ich doch so gerne eines sein wollen. Ich war eingeschlafen, hatte nicht gewartet, einfach so eingeschlafen.

Das Mädchen mit den langen, blonden Haaren ließ sich vom Wetter nicht beirren, sondern baute weiter in der Sandkiste, als würde sie die Welt um sich gar nicht wahrnehmen, aber warum sollte man sich auf eine Welt wahrnehmend einlassen, die einen selber nicht wahrnahm, die einen alleine ließ. Sie hatte sich offenbar eingerichtet in ihrem Alleine-sein, eingerichtet im Unabänderlichen. Kinder können etwas, was wir Erwachsenen oft nicht fertigbringen. Sie finden sich ab. Immer und immer wird sie es versucht haben, und immer und immer wieder wurde sie zurückgestoßen. Irgendwann resignierte sie. Jetzt ist die Welt die Sandkiste vor ihr und darin das was sie baut. „Ein so braves, ruhiges Kind“, würden viele sagen, „Die kann sich ja ganz alleine beschäftigen, nicht so wie diese verzogenen Gören, die ständig Entertainment und Unterhaltung brauchen.“ Es tönt mir in den Ohren, und macht mich krank. „Seht ihr denn nicht, dass dieses Kind nicht brav ist, sondern zermürbt und zerstampft vom Leben, ja, bereits in diesem Alter, alleingelassen, verlassen und verunsichert. Und vielleicht wird sie genau aus diesem Grund, aus dem was ihr Brav-sein nennt und nur eine Ruhe ist, die es gibt, weil den Ruf niemand hört, vielleicht wird sie genau aus diesem Grund irgendwann ihre Mutter mit der Schere erstechen oder sich selbst mit einer Giftnadel, langsam, aber unausweichlich.“

„Setz Dich da hin und warte. Hier, ich drehe den Fernseher auf. Sei ein braves Mädchen, ich muss arbeiten, aber ich komme bald wieder“, höre ich die Stimme meiner Mutter immer noch, und ich wollte brav sein.
„Wenn Du traurig bist, dann hole Dir Schokolade“, setzt sie noch hinzu, und ich hole mir Schokolade, wenn ich traurig bin oder wütend oder einfach nur allein. Schokolade tröstet so wunderbar, und ich suche immer öfter Trost, aber nur, bis meine Mutter wieder da ist. Sie kommt ja bald wieder, und sie freut sich, wenn ich dann da bin, freut sich, wenn ich auf sie gewartet habe, und ich will ihr Freude bereiten.
„Gut, bleib da sitzen und warte“, sagt meine Mutter, und es hallt.
„Ich will Dich so gerne umarmen“, höre ich mich, aber nur dieses eine Mal.
„Später, ich habe keine Zeit. Was willst Du nur immer von mir? Siehst Du nicht, dass ich völlig ausgelaugt bin?“, entgegnet sie.

Das blonde Mädchen sitzt in der Sandkiste und spielt, doch plötzlich sieht sie auf, sieht in meine Richtung. Zuerst wirkt es so, als würde sie durch mich hindurch in die Ferne blicken, doch dann ruht ihr Blick, auf dem Hund. Er sitzt ruhig da und wartet. Es ist ihm einerlei, so lange er jemanden um sich hat, einerlei wo er ist oder was geschieht. Die Ruhe, die er ausstrahlt, tut ihr gut, denke ich, dem blonden, kleinen, alleingelassenem Mädchen. Ich winke ihr zu, und langsam und vorsichtig kommt sie näher. Zwei Meter von meinem Hund entfernt bleibt sie stehen. Er mustert sie, schnuppert ihren Duft in der Luft. „Hallo!“, sage ich. „Darf ich ihn mal streicheln?“, fragt sie mich leise. „Ja, darfst Du, wenn Du möchtest“, antworte ich lächelnd und knie mich neben ihn, während das Mädchen näher kommt und sachte und langsam ihre kleine Hand auf seinen Kopf legt, sie über seinen Hals hinuntergleiten lässt. Ruhig und bewegungslos lässt er es einfach geschehen, als würde er spüren, dass eine rasche Bewegung seinerseits dieses zarte, unsichere Wesen verschrecken würde. „Wie heißt er?“, fragt sie mich. „Ayo“, antworte ich knapp, „Ayo bedeutet Glück.“ Da lächelt sie. „Das ist schön. Heute habe ich Glück“, und mit diesen Worten springt sie auf und läuft davon.

„Bleib schön da sitzen und warte auf mich. Es ist nur mehr eine kleine Weile“, sagt meine Mutter, und ich möchte noch immer brav sein.
„Ich würde so gerne hinausgehen und mein Leben beginnen“, werfe ich ein.
„Ja, dann geh doch. Ich wusste, dass Du nicht warten kannst. Du bist nicht brav. Du bist undankbar. Immer war ich für Dich da“, entgegnet sie kopfschüttelnd.
„Gut, ich warte, dass Du da bist, wenn Du kommst. Du warst immer für mich da“, höre ich mich traurig sagen, und dabei wollte ich nur brav sein und warten und dankbar. Leben geht später auch noch.

Am nächsten Tag bleibe ich wieder am Spielplatz stehen. Meine Augen suchen sie, und finden sie wieder in der Sandkiste unter all den anderen Kindern. Doch diesmal ist sie nicht ruhig. Als sie mich entdeckt springt sie auf und läuft auf mich zu. Wortlos umarmt sie Ayo, und ich sehe, dass sie weint.

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