1906 Ein Ort zu Bleiben (Teil 1)



Ein Ort zu Bleiben (Teil 1)

Nebelgebettet, zart umschmeichelt, erheben sich die schroffen, steilen Steinwände gen Himmel, nebelgebettet nimmt die Nacht die Härte. Der Nebel umfließt die Steine, mich, flüsternd, drängend: „Nur zu, bleib bei mir, geh den Weg. Ich nehme Dich an.“ Der Wind hat sich zur Ruhe begeben: „Willst Du nicht auch endlich Ruhe finden?“, raunt er in meinem Kopf. Oh ja, das will ich, ruhig werden, endlich ganz, ganz ruhig. „Dann steig an uns hinauf.“, laden mich die Felswände ein, „Steig an uns hinauf, und lass Dich fallen, in einen langen, langen Schlaf, der weder Traum noch Ende kennt, den langen, langen Schlaf, der Dich nicht enttäuscht und nicht mehr entläßt in die Unruhe und Rastlosigkeit, der nichts kennt als Stetigkeit und Annahme. Es gibt keine andere Treue als seine.“ „Ich danke Dir für Deine Einladung, doch das ist nicht der Weg, den ich gewählt habe.“, denke ich, während meine bloßen Füße den feinen Kies berühren, ein wenig einsinken, eine kleine Spur hinterlassend, die bedächtig und verläßlich mit der nächsten Welle eingeebnet wird, unbeugsam und unbeeindruckt.

„Wir hinterlassen keine Spuren, nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben.“, denke ich, „Und so gerne wir es auch hätten, auch nicht in den Gedanken und Herzen, die uns möglicherweise zugetan waren. Und es ist gut so. Die Spuren als bleibend zu denken lähmte jeden Gedanken. Nichts überdauert den langen, langen Schlaf, nichts geht mit hinüber, in die einzige Freiheit. Wäre es nicht so, die Welt wäre nicht mehr begehbar vor lauter Spuren, die Gedanken wären versteinert vor lauter Rückwendung, und die Herzen wären versiegelt, unnahbar. Nein, nichts bleibt und nichts soll bleiben.“

„Du atmest die Freiheit. Du fühlst Dich unbelastet.“, flüstert der Mond, mich mit seinem Silberglanz überschüttend. „Ja, ich fühle mich unbelastet, atme die Freiheit.“, denke ich, „Zum ersten Mal atmen und fühlen, seit jenem Moment, in dem meine Lungen sich zum ersten Mal eigenständig füllten, zum ersten Mal frei und unbelastet.“

„Komm zu uns, lass Dich von uns umarmen.“, flüstern mir die Wellen zu, verlockend und süß, rollen auf mich zu, umschmeicheln meine Knöchel, bäumen sich auf, sinken und vergehen, um ihren Schwestern, die nachkommen, Platz zu schaffen, „Komm zu uns, Dich rund um zu betten, so weich, wie Du noch nie gebettet wurdest.“ „Ich will Eure Einladung annehmen.“, denke ich, und wende mich den Wellen zu.

Schritt für Schritt, umspielen meine Knöchel, meine Schenkel. „Ich will zu Euch kommen, mich fallen lassen in Eure Umarmung.“ Der Nebel vor mir verdichtet sich, nimmt Gestalt an, zwingt mich anzuhalten: „Weißt Du denn nicht, daß sich das nicht gehört, was Du da vorhast? Hast Du denn wirklich auf alles vergessen, was ich Dir beigebracht habe?“ „Nein, Mutter, ich weiß sehr wohl was sich gehört, und ich habe alles behalten, von dem, was Du mir beigebracht hast.“, antworte ich wahrheitsgemäß, „Das hat meinen Kopf und meine Gedanken verkleistert, hat mich nicht durchdringen lassen, zu dem, was meine Gedanken hätten sein können. Doch jetzt, jetzt lasse ich meine Gedanken reinwaschen, durch das Wasser, das mich annimmt wie ich bin.“ Und die nächste Welle nimmt sie mit, die nebelhafte Gestalt, löst sie auf. 

Keine Kommentare: