Eine unschöne Leiche
Adele war entsetzt gewesen. Agathe, eine
ihrer besten Freundinnen, war verstorben. Weder unvermutet noch überraschend,
denn der Krebs hatte schon seit Monaten in ihr gewütet, hatte sie aufgezehrt
und unansehnlich werden lassen. Sie hätte eigentlich genug Zeit gehabt sich
über ihre Garderobe Gedanken zu machen, und doch hatte sie es unterlassen.
Gerade Agathe, die für Adele immer eine Galionsfigur war in Fragen des Stils
und der Etikette war, hatte offenbar keinen einzigen Gedanken daran
verschwendet. "Ich bin ja nur so froh", hatte Adele Amanda, einer
gemeinsamen Freundin, an diesem Morgen anvertraut, "dass sie das nicht
mehr miterleben musste, wie sie verschandelt wurde, und das zu ihrem letzten
großen Auftritt. Ich wäre gestorben vor Scham." "Dann ist es ja gut,
dass sie das im Vorfeld schon erledigt hat", entgegnete Amanda trocken.
Adele fühlte sich unverstanden. Aber ganz gleich ob sie nun verstanden wurde
oder nicht, sie wollte alles in ihrer Macht stehende tun, dass ihr so etwas nicht
passieren würde. Das Bild von ihrer missgestalteten toten Freundin wollte ihr
nicht und nicht aus dem Kopf gehen. Ihr ganzes Leben lang war Agathe solch ein
Faux-pas kein einziges Mal passiert, und gerade dieser letzte, dieser
allerletzte Auftritt - oder sollte man lieber sagen Auflieger -, der allen im
Gedächtnis blieb und alle früheren Bilder überdeckte, würde bleiben. Daran war
ja nun nichts mehr zu ändern, aber ihr, Adele, würde so etwas nicht passieren.
Das schwor sie sich, sich selbst im Spiegel ihres Toilettetisches tief in die
Augen blickend. Doch wie wollte sie es anfangen? Schließlich konnte ihr niemand
verbindlich zusagen wann es geschehen würde. Wie sollte man sich da auf
irgendetwas einstellen? Allein die Frage wann man zum Friseur gehen sollte war
unlösbar. Natürlich ging Adele regelmäßig zum Friseur, aber was, wenn sie auf
dem Weg zum Friseur tot umfiele, so dass sie keine Chance mehr hatte
irgendetwas zu ändern? Und dann erst die Sache mit der Garderobe. Natürlich
könnte sie jetzt auf der Stelle einkaufen gehen, aber was, wenn sie gemeiner
Weise noch zwanzig oder dreißig Jahre leben würde? Das Kleid wäre völlig
veraltet , also nichts mehr, worin man sich sehen lassen könnte ohne sich zu
genieren. Ganz abgesehen von der Frage ob sie ihre Figur halten würde, aber dem
wäre mit einer guten Schneiderin zu begegnen, die sie natürlich an der Hand
hatte. Doch es wäre vielleicht kein Fehler sich bei Gelegenheit um einen Ersatz
umzusehen, denn selbst Schneiderinnen sollen sterblich sein, auch wenn sie
grundsätzlich unersetzlich sind. Wie lange hatte gesucht bis sie eine Passende
gefunden hatte, viel länger als nach ihrem Ehemann, aber der musste auch nicht
so hohen Ansprüchen Genüge tun, aber das nur nebenbei. Ihr Hauptproblem war
immer noch nicht gelöst und lastete dementsprechend schwer auf ihrer Seele. Wem
könnte sie sich anvertrauen, wer könnte ihr raten? Völlig allein und verlassen
fühlte sie sich auf dieser Welt, wusste, dass sie mit den wirklich wichtigen
Dingen des Lebens immer einsam sein würde. Es war schwer nicht in Melancholie
zu verfallen, nicht zu resignieren, doch sie riss sich zusammen. In dem Ort, in
dem sie aufgewachsen war, fiel ihr ein, gab es einen Sterbeverein, zumindest
wurde er so genannt. In Wahrheit war es wie ein Sparverein, wo man zu Lebzeiten
bereits Geld beiseite legte um die Anverwandten nach dem Ableben nicht mit den
Kosten des Begräbnisses zu belasten, doch um solch triviale Dinge wie
Finanzierung musste sie sich nicht kümmern. Was konnte so ein Begräbnis schon
groß kosten? € 20.000? Möglich, aber vernachlässigbar, aber mit dem Gedanken an
Vorsorge fand sie auch eine Antwort auf ihr Problem. Sie würde einfach
entsprechend vorsorgen.
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