1907 Im Paradies gab es keine Bücher ... (Teil 4)


„Im Ich-Sagen,“, antwortete er, „im ersten – im Ergreifen des Apfels, dort wo wir unsere Wurzeln aus dem lösten, wo aus dem wir lebten, uns abnabelten von unserem Ursprung. Vor dem war reines, lauteres, liebendes Du-Sagen – dann mußten wir es neu lernen, in jedem Moment neu, uns im Gedächtnis rufen und damit dem Vergessen entziehen, was wir zuvor nicht nur dachten und bedachten, sondern waren. Immer mehr haben wir auf unsere ureigendste Bestimmung vergessen – und immer mehr mußten wir deduzieren, um uns wieder zu vergegenwärtigen, was wir doch von jeher waren. Liebende und Dich liebendes Du. Das Vergessen wurde gefaßt – und seitdem wurden Bücher geschrieben. Mit einem Schlag, mit einem Griff haben wir die Brücke durchbrochen, abgerisssen – die Brücke von Dir zu mir, von Du zu Du, vom kleinen, in diesem zugriff so unendlich geist- und herzlosen Menschen – Du zum großen, trotzdem so unendlich liebenden und leben-schaffenden göttlichen Du. Du hast den neuen Anfang gesetzt – und nur darum sind wir nicht zugrunde gegangen. Du hast verziehen, noch bevor wir verstanden darum zu bitten: Du hast belebt, neu belebt, noch bevor wir recht begriffen – und seitdem werden Bücher geschrieben, um uns über etwas klar zu werden, was uns erst in Dir klar werden kann. Hätten wir denn der Bücher bedurft, so lange Du selbst uns belehrtest? Was sollten wir mit aller noch so großen menschlichen Weisheit, da wir Deine Weisheit zur Kameradin hatten? Wozu hätten wir die Wahrheiten suchen müssen, da uns Dein Geist selbst darin einführte? Wozu hätten wir die Liebe thematisieren sollen, wo wir doch in unmittelbarem Umgang mit ihr lebten, sie uns leibhaftig in Dir und mit Dir vor Augen stand? Dort, wo die Brücke barst, aus der unmittelbaren eine mittelbare Begegnung wurde – da begannen wir Bücher zu schreiben. Wohl auch um uns über diese Distanz hinwegzutäuschen zu können, um uns eine Illusion von Wahrheit, Weisheit und Geist zu errichten, ohne uns je darüber hinwegtäuschen zu können, daß es nie mehr war als eine selbsterrichtete Illusion. Dies Getümmel, das Gerede, die Geschäftigkeit, das Verflüchtigen in die Oberflächlichkeit – Dir können wir nicht entfliehen, Du deckst uns auf und stürzt unsere Götzen. Im Nahekommen Deiner Herrlichkeit offenbart sich ihre Nutzlosigkeit, in Deinem Wort ihre Stummheit. Abfall sind sie, geschnitzt aus Holz, das zu nichts anderem mehr tauglich ist – und die wir Ich-sagend anbeten, und vor denen wir uns Ich-sagend niederwerfen. Du allein magst uns herausreißen aus unserer Bücherweisheit. Paradies – heißt unmittelbarer, liebender Umgang mit Dir – deshalb wurden im Paradies keine Bücher geschrieben.“

Sanft und ruhig schlief sie in seinen Armen, und den Klang seiner Worte nahm sie mit in den Schlaf. Vielleicht nicht den Sinn, aber den wohltuenden Klang. Er küßte sie auf die Stirn, und sah sie lange an, dachte: „Wo Du bist, in Deinem Lächeln, in einem einzigen Kuß, darin wischt Du alle Weltweisheit mit einem Streich vom Tisch und läßt sie nichtig, sinnlos und nichtssagend werden. Nur des einen Wortes bedarf es – Du, und Leben erwächst und bleibt. Keine tote, noch so hehre Bücherweisheit kann sagen was Leben be-deutet. Wenn Du hier liegst, ruhig schlafend. Dich mir darin rücksichtslos anvertrauend, dann spricht dies die Unendlichkeit des Lebens, spricht es die Liebe, ohne auch nur eine einzige Silbe abzunutzen … . Bedächtig trat er ein in die unendliche Weite, die das Jenseits aller Worte bedeutet, und die alles faßt, was das Sagen in Versprachlichung nicht mehr vermach, trat ein ins Wort selbst.

Keine Kommentare: