Einst war ich ...
Erst wenige Monate ist es her, dass sie im
Kreis ihrer Familie Geburtstag gefeiert hatte, ihren 86. Geburtstag. Alle waren
sie gekommen, die Kinder und Schwiegerkinder, die Enkel und Urenkel. Sie freute
sich sie um sich zu haben. Vielleicht ging es nicht mehr so schnell wie früher,
aber sie konnte noch für sich sorgen. Einkaufen gehen, kochen, die Wohnung in
Ordnung halten, das war alles möglich. Dann hatte sie sich das Bein gebrochen,
und von da an ging es sehr schnell. Sie konnte nicht mehr gehen, auch nicht die
Hände benutzen. Sie wollten einfach nicht mehr. Plötzlich konnte sie nicht
mehr, was bis dahin selbstverständlich war, essen, kochen, aufs Clo gehen.
Zuletzt versagte ihr auch noch die Sprache den Dienst. Wo war sie, ihre
Familie? Nein, keiner hatte Zeit sich um sie zu kümmern. So kam sie in das
Pflegeheim.
„Na Oma, wie geht es uns denn heute“, sagte
der Pfleger, der ihr das Essen brachte. Ein Löffel. Er musste wieder weg. Er
kam wieder. Nein, er setzte sich nicht neben sie, sondern stand. Er wollte es
hinter sich bringen. Kaum hatte er ihr einen Löffel in den Mund geschoben,
drängte schon der nächste nach, dabei hatte sie noch nicht einmal
hinuntergeschluckt. Niemand hat Zeit. Jetzt muss er telephonieren. Er geht
wieder weg. Eigentlich hat sie gar keinen Hunger. Dieses Breizeug schmeckt auch
widerlich, aber sie kann es nicht sagen. Schlaganfälle waren es gewesen, viele
kleine Schlaganfälle, die ihr diese so selbstverständlich scheinenden
Fähigkeiten raubten, meinte der Arzt, und wandte sich dabei nicht an die
Patientin sondern an ihre Tochter. Dabei konnte sie noch sehr gut hören und
auch verstehen, aber wenn man nichts sagen kann, dann halten einen die Menschen
automatisch für debil. Auch die, die es im Grunde besser wissen müssten.
„Schatzi, jetzt kriegst Du eine frische
Windel“, sagte die Krankenschwester und zog sie aus. War jemand im Raum? Waren
sie alleine? War die Türe geschlossen. Wie alt sie wohl war, diese junge
Krankenschwester? 25? Sie hätte ihre Tochter, ja ihre Enkelin sein können. Fünf
Kinder hatte sie großgezogen. Ihr erster Mann war im Krieg gewesen und hatte es
nie verkraftet. Eigentlich war sie immer auf sich allein gestellt. Alles hat
sie gemeistert. Es fiel nicht einmal sonderlich auf, als er sich umbrachte. Sie
hatte keine Zeit sich um ihn auch noch zu kümmern, neben der Arbeit und den
Kindern. Vielleicht hatte sie auch aufgeatmet, damals, aber das hätte sie nie
zugegeben. Und jetzt, jetzt wurde sie behandelt wie ein Baby. Im Rollstuhl saß
sie, neben allen anderen im Speisesaal. Manche konnten selber essen. Manche
konnte sogar selber gehen. Was machten die hier, fragte sie sich? Warum dürfen
die nicht nach Hause? Ach ja, nach Hause, das war ihr sehnlichster Wunsch. Der
Speiseraum erinnerte sie an den Kindergarten, Aufgefädelt saßen sie und mussten
abwarten bis sich jemand erbarmte und ihnen was gab. Der einzige wirkliche Unterschied
bestand darin, dass es niemanden gab, der daran glaubte, dass irgendetwas
besser werden könnte. Kinder lernen dazu. Hier konnte es nur noch schlechter
werden. Und niemand trommelte mit dem Besteck auf den Tisch. Sie hätte es gerne
getan. Sie konnte es nicht.
„Lange wird sie es nicht mehr machen“,
sagten ihre Besucher. Und sie war traurig, weil sie neben ihr stand und über
sie sprachen, als wäre sie schon längst von ihnen gegangen, oder als würde sie
sie nicht hören können. Warum musste sie es noch erleben, wie die Menschen
sind, wenn sie meinen, dass da jemand ist, ohne Sprachgewalt und ohne Verstand?
Ist der Respekt und die Liebe, an die sie geglaubt hatte, nur aufgesetzt, so
lange man meint, verstanden zu werden? Ist denn alles nur Lüge und Betrug? Alles
fällt ab, wenn es nicht mehr notwendig scheint.
„Ach die kriegt doch eh nichts mehr mit“, hörte sie
ihren Schwiegersohn sagen. Vielleicht könnte sie ihm eines Tages sagen, doch
ich kriege alles mit. Vielleicht kommen sie einst in die selbe Situation
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