Ein Brief
„Schau mal, was ich heute im Briefkasten
gefunden habe“, sagtest Du wie nebenbei, während ein weißer, länglicher
Umschlag in meinem Schoß landete. Langsam legte ich mein Buch zur Seite und
warf einen Blick darauf.
„Dass Du überhaupt den Briefkasten gefunden
hast“, erwiderte ich sarkastisch, „Du warst doch sicherlich seit Ewigkeiten
nicht mehr dort.“
„Wozu auch? Es schreibt doch heutzutage
keiner mehr Briefe, so richtig mit der Hand und mit Adresse am Briefumschlag
und Briefmarke“, merktest Du lächelnd an, „Aber heute hatte ich so ein Gefühl,
dass da was drinnen sein könnte. Ich meine, es ist ja oft was drinnen, in dem
Briefkasten, aber lauter nutzloses Zeug, doch heute, da war es dieser Brief ...“
„Und man sieht, dass Du ihn gefunden hast,
so wie Du in malträtiert hast“, meinte ich mit einem Blick auf die
ausgefransten Ränder, „Du hast ihn einfach aufgerissen. Du und Deine Ungeduld,
Deine Neugierde.“
„Da redet sie mal wieder groß! Hast Du
einen Brieföffner eingesteckt?“, fragtest Du.
„Nein, habe ich nicht, aber ich für meinen
Teil bin durchaus in der Lage einen Brief so lange ungeöffnet zu lassen, bis
ich zu meinem Schreibtisch komme und dort meinen Brieföffner verwende“,
entgegnete ich lapidar.
„Du kannst da gar nicht mitreden, weil Du
keine Briefe bekommst!“, sagtest Du spöttisch. Du kamst mir vor wie eine
Tennisspielerin mitten in einem Doppel beim Netz, und ich spielte Dir den Ball
direkt auf den Schläger, so dass Du locker schlagen konntest.
„Und was soll ich mit dem Brief?“, fragte
ich ausweichend, während ich den Umschlag näher betrachtete. Die Handschrift
war eckig und hart, aber zumindest sehr gut leserlich.
„Denkst Du auch dass er von einem Mann ist?“,
lenktest Du ab.
„Es sieht danach aus, aber mit
Handschriften habe ich nichts am Hut. Ich bin ja schon froh, wenn es leserlich
ist“, entgegnete ich, „Aber was soll ich machen damit?“
„Lesen!“, meintest Du, und es klang ein
wenig genervt. Ich nahm das Blatt also aus dem Umschlag – das wird was
Aufregendes sein, dachte ich, während ich es auseinander faltete. „Oha, ein
Dichter“, entfuhr es mir unwillkürlich.
„Oder eine Dichterin!“, schobst Du ein, „Halt
Dich doch nicht so lange mit Nebensächlichkeiten auf und lies.“
„Ein kurzes, heftiges Liebesgedicht. Gut
formuliert, eindringlich ohne schmalzig zu sein“, gab ich meine Meinung ab, „Da
hast Du Dir einen Verehrer eingefangen. Wer ist es? Verrat es endlich!“
„Genau das ist der Punkt“, erklärtest Du
ernst, „Ich weiß es nicht wer das geschrieben hat. Es ist ja nicht
unterzeichnet. Aber seinen Worten nach klingt das, als würden wir uns schon
ewig kennen.“
„Ja, das stimmt, und Du hast wirklich keine
Idee?“, sagte ich ernst. Resigniert schütteltest Du den Kopf.
War es Feigheit sich in der Anonymität zu
verschanzen? Oder war es einfach ein Versehen? Vielleicht war der Schreiber
auch bloß nicht ganz richtig im Kopf? Natürlich, es waren einschmeichelnde
Zeilen, die wohl taten, aber taten sie das auch noch, wenn man wusste, dass man
eigentlich nicht gemeint war, sondern irgendwer anderer oder bloß ein
Hirngespinst? Könnte das nicht nach hinten los gehen? Was würde sein, wenn sich
der Schreiber getäuscht fand? Würde er es auf seine eigene Täuschung
zurückführen oder eine, die von Dir ausging?
Bedächtig faltete ich das Blatt zusammen
und schob es zurück in den Umschlag.
„Egal was Du vorhast, sei vorsichtig. Das
kann auch noch ins Gegenteil umschlagen“, merkte ich ernst an.
„Ach was, ich habe einen Verehrer und Du
missgönnst ihn mir, oder sie. Gib es zu, Du bist bloß eifersüchtig!“, sagtest
Du in Deiner gekonnt leichtfertigen Art.
„Ich wünschte Du hast recht“, gab ich
düster zurück.
Bereits zwei Tage später kam der nächste
Brief, der nicht mehr ganz so nett war. Sollte ich recht behalten?
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