0402 Anonym (Teil 1):


Ein Brief


„Schau mal, was ich heute im Briefkasten gefunden habe“, sagtest Du wie nebenbei, während ein weißer, länglicher Umschlag in meinem Schoß landete. Langsam legte ich mein Buch zur Seite und warf einen Blick darauf.
„Dass Du überhaupt den Briefkasten gefunden hast“, erwiderte ich sarkastisch, „Du warst doch sicherlich seit Ewigkeiten nicht mehr dort.“
„Wozu auch? Es schreibt doch heutzutage keiner mehr Briefe, so richtig mit der Hand und mit Adresse am Briefumschlag und Briefmarke“, merktest Du lächelnd an, „Aber heute hatte ich so ein Gefühl, dass da was drinnen sein könnte. Ich meine, es ist ja oft was drinnen, in dem Briefkasten, aber lauter nutzloses Zeug, doch heute, da war es dieser Brief ...“
„Und man sieht, dass Du ihn gefunden hast, so wie Du in malträtiert hast“, meinte ich mit einem Blick auf die ausgefransten Ränder, „Du hast ihn einfach aufgerissen. Du und Deine Ungeduld, Deine Neugierde.“
„Da redet sie mal wieder groß! Hast Du einen Brieföffner eingesteckt?“, fragtest Du.
„Nein, habe ich nicht, aber ich für meinen Teil bin durchaus in der Lage einen Brief so lange ungeöffnet zu lassen, bis ich zu meinem Schreibtisch komme und dort meinen Brieföffner verwende“, entgegnete ich lapidar.
„Du kannst da gar nicht mitreden, weil Du keine Briefe bekommst!“, sagtest Du spöttisch. Du kamst mir vor wie eine Tennisspielerin mitten in einem Doppel beim Netz, und ich spielte Dir den Ball direkt auf den Schläger, so dass Du locker schlagen konntest.
„Und was soll ich mit dem Brief?“, fragte ich ausweichend, während ich den Umschlag näher betrachtete. Die Handschrift war eckig und hart, aber zumindest sehr gut leserlich.
„Denkst Du auch dass er von einem Mann ist?“, lenktest Du ab.
„Es sieht danach aus, aber mit Handschriften habe ich nichts am Hut. Ich bin ja schon froh, wenn es leserlich ist“, entgegnete ich, „Aber was soll ich machen damit?“
„Lesen!“, meintest Du, und es klang ein wenig genervt. Ich nahm das Blatt also aus dem Umschlag – das wird was Aufregendes sein, dachte ich, während ich es auseinander faltete. „Oha, ein Dichter“, entfuhr es mir unwillkürlich.
„Oder eine Dichterin!“, schobst Du ein, „Halt Dich doch nicht so lange mit Nebensächlichkeiten auf und lies.“
„Ein kurzes, heftiges Liebesgedicht. Gut formuliert, eindringlich ohne schmalzig zu sein“, gab ich meine Meinung ab, „Da hast Du Dir einen Verehrer eingefangen. Wer ist es? Verrat es endlich!“
„Genau das ist der Punkt“, erklärtest Du ernst, „Ich weiß es nicht wer das geschrieben hat. Es ist ja nicht unterzeichnet. Aber seinen Worten nach klingt das, als würden wir uns schon ewig kennen.“
„Ja, das stimmt, und Du hast wirklich keine Idee?“, sagte ich ernst. Resigniert schütteltest Du den Kopf.

War es Feigheit sich in der Anonymität zu verschanzen? Oder war es einfach ein Versehen? Vielleicht war der Schreiber auch bloß nicht ganz richtig im Kopf? Natürlich, es waren einschmeichelnde Zeilen, die wohl taten, aber taten sie das auch noch, wenn man wusste, dass man eigentlich nicht gemeint war, sondern irgendwer anderer oder bloß ein Hirngespinst? Könnte das nicht nach hinten los gehen? Was würde sein, wenn sich der Schreiber getäuscht fand? Würde er es auf seine eigene Täuschung zurückführen oder eine, die von Dir ausging?

Bedächtig faltete ich das Blatt zusammen und schob es zurück in den Umschlag.
„Egal was Du vorhast, sei vorsichtig. Das kann auch noch ins Gegenteil umschlagen“, merkte ich ernst an.
„Ach was, ich habe einen Verehrer und Du missgönnst ihn mir, oder sie. Gib es zu, Du bist bloß eifersüchtig!“, sagtest Du in Deiner gekonnt leichtfertigen Art.
„Ich wünschte Du hast recht“, gab ich düster zurück.

Bereits zwei Tage später kam der nächste Brief, der nicht mehr ganz so nett war. Sollte ich recht behalten?

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