0403 Lara lacht


Lara lacht


„Bitte lieber Gott, lass sie wieder aufwachen!“, schrie es in Bettinas Kopf, während sie am Krankenhausbett ihrer Tochter saß. Intensivabteilung. „Von der Nacht hängt alles ab“, hatte ihr der Arzt erklärt, „Wenn sie diese Nacht übersteht, dann wird alles gut.“ „Bitte lieber Gott, lass alles gut werden!“, wiederholte Bettina stumm wie ein Mantra, als könnte sie Einfluss nehmen. Lara war der Bauch ausgepumpt worden und nun schlief sie. Niemand wusste genau was das Mädchen alles genommen hatte. Jede Menge Tabletten, alles was sie fand und eine Flasche Scotch. Dieser Körper, dieser zarte Körper hielt offenbar unheimlich viel aus. Konnte sich Bettina daran erinnern, dass ihre Tochter wirklich so schmal gewesen war? Ja, ihre Wangen wirkten eingefallen, aber schlank war sie immer gewesen. Doch in den letzten Wochen, da trug sie nur mehr diese weiten Klamotten. Es war schwer zu sagen wie schlank sie wirklich war. Und jetzt saß sie hier und fragte sich was passiert war. Was war aus ihrem kleinen, süßen, fröhlichen Mädchen geworden? Was war nur geschehen?

Bettina und Josef Vogel hatten geheiratet. Es war an einem Sonntag im Mai, wie es so üblich ist. Zwei Jahre später kam Lara auf die Welt. Bettina arbeitete damals in ihrem gelernten Beruf als Graphikerin und Josef, ihr Mann, hatte sein eigenes Architekturbüro. Er war gerade im Aufbau begriffen und brauchte seine ganze Kraft für den Aufbau des Unternehmens. Bettina respektierte das und so kamen sie stillschweigend überein, dass Bettina, als die Mutter, zu Hause blieb und sich um das Kind kümmerte, während Josef es übernahm das Geld zu verdienen für seine Familie. Eine klassische Rollenverteilung. Bettina sah die Chance darin für ihr Kind da zu sein. Diesem Kind sollte es nicht so gehen wie ihr. Ganz anders wollte sie alles machen. Bereits vor Jahren hatte sie sich das geschworen, ganz anders. Sie wollte erleben wie ihr Kind aufwuchs, wollte es kennen, und nicht nur ein Kind bekommen um es ständig abzuschieben. Das war die Chance, die sie ergriff, während sie die Gefahr missachtete.

„Josef, werden wir den Burschen nennen“, sagte der zukünftige Vater voller Hoffnung, dass er einen Sohn bekäme, denn den könnte er unter seine Fittiche nehmen, könnten ihn zu einem richtigen Mann machen, wie er meinte, und nicht zu einem Weichei. „Aber das passiert auch nur deswegen, weil die Burschen ohne Vater aufwachsen. Mütter sind viel zu weich. Da können ja nur Schwächlinge draus werden“, so Josefs feste Überzeugung, und Bettina ließ ihn reden. Es kam ja schließlich nicht drauf an. Warum sollte sie wegen einer Hypothese Groll heraufbeschwören? Doch dann wurde es ein Mädchen, und nachdem sich der frischgebackene Vater von seinem ersten Schock erholt und alle hochtrabenden Pläne verabschiedet hatte, wollte er, dass das Mädchen zumindest Josefina oder Josefa getauft werden sollte, doch das schlug ihm Bettina rundheraus ab. „Möchtest Du, dass unsere Tochter wegen ihres Namens ständig gehänselt wird? Kinder können so grausam sein“, führte sie ins Treffen, und Josef drehte am Absatz um und ging. „Lara heißt sie“, sagte Bettina, als die Krankenschwester kam und die junge Mutter um ihre Entscheidung fragte. „Ein netter Name“, murmelte die Schwester abwesend, schlang ein Band mit dem Namen um Laras schmales Handgelenk und ging wieder. Bettina alleine hatte den Namen für ihre Tochter ausgewählt. War das bereits ein Vorzeichen?

„Bitte lieber Gott, lass sie wieder aufwachen!“, ging es immer noch rhythmisch durch Bettinas Kopf, und sie dachte daran wie ihre kleine Lara das erste Mal in ihren Armen lag. Sie wollte und wollte nicht aufwachen. Doch sie wirkte zufrieden. Stundenlang saß Bettina neben ihrem Bett und wartete auf ein Lebenszeichen, so wie jetzt, knapp fünfzehn Jahre später. Allein saß sie am Bett ihrer Tochter. „Ich habe morgen so viel Arbeit. Du machst das schon“, erklärte Josef überzeugt, als der Krankenwagen kam und Lara holte. „Wieder einmal hat er sich aus der Affäre gezogen“, dachte Bettina voller Bitterkeit, und wieder hatte sie kein Wort gesagt, aber was hätte sie sagen sollen, während ihre Tochter halb tot war? Ihr Blick fiel auf den Kaminsims. Dort stand ein Bild von Lara. Sie hatte die Schultüte in der Hand. Ihr erster Schultag. Wie weit schien das weg zu sein. Und Lara lachte.

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