Lara lacht
„Bitte lieber
Gott, lass sie wieder aufwachen!“, schrie es in Bettinas Kopf, während sie am
Krankenhausbett ihrer Tochter saß. Intensivabteilung. „Von der Nacht hängt
alles ab“, hatte ihr der Arzt erklärt, „Wenn sie diese Nacht übersteht, dann
wird alles gut.“ „Bitte lieber Gott, lass alles gut werden!“, wiederholte
Bettina stumm wie ein Mantra, als könnte sie Einfluss nehmen. Lara war der
Bauch ausgepumpt worden und nun schlief sie. Niemand wusste genau was das
Mädchen alles genommen hatte. Jede Menge Tabletten, alles was sie fand und eine
Flasche Scotch. Dieser Körper, dieser zarte Körper hielt offenbar unheimlich
viel aus. Konnte sich Bettina daran erinnern, dass ihre Tochter wirklich so
schmal gewesen war? Ja, ihre Wangen wirkten eingefallen, aber schlank war sie
immer gewesen. Doch in den letzten Wochen, da trug sie nur mehr diese weiten
Klamotten. Es war schwer zu sagen wie schlank sie wirklich war. Und jetzt saß
sie hier und fragte sich was passiert war. Was war aus ihrem kleinen, süßen,
fröhlichen Mädchen geworden? Was war nur geschehen?
Bettina und Josef
Vogel hatten geheiratet. Es war an einem Sonntag im Mai, wie es so üblich ist.
Zwei Jahre später kam Lara auf die Welt. Bettina arbeitete damals in ihrem
gelernten Beruf als Graphikerin und Josef, ihr Mann, hatte sein eigenes
Architekturbüro. Er war gerade im Aufbau begriffen und brauchte seine ganze
Kraft für den Aufbau des Unternehmens. Bettina respektierte das und so kamen
sie stillschweigend überein, dass Bettina, als die Mutter, zu Hause blieb und
sich um das Kind kümmerte, während Josef es übernahm das Geld zu verdienen für
seine Familie. Eine klassische Rollenverteilung. Bettina sah die Chance darin
für ihr Kind da zu sein. Diesem Kind sollte es nicht so gehen wie ihr. Ganz
anders wollte sie alles machen. Bereits vor Jahren hatte sie sich das
geschworen, ganz anders. Sie wollte erleben wie ihr Kind aufwuchs, wollte es
kennen, und nicht nur ein Kind bekommen um es ständig abzuschieben. Das war die
Chance, die sie ergriff, während sie die Gefahr missachtete.
„Josef, werden
wir den Burschen nennen“, sagte der zukünftige Vater voller Hoffnung, dass er
einen Sohn bekäme, denn den könnte er unter seine Fittiche nehmen, könnten ihn
zu einem richtigen Mann machen, wie er meinte, und nicht zu einem Weichei.
„Aber das passiert auch nur deswegen, weil die Burschen ohne Vater aufwachsen.
Mütter sind viel zu weich. Da können ja nur Schwächlinge draus werden“, so
Josefs feste Überzeugung, und Bettina ließ ihn reden. Es kam ja schließlich
nicht drauf an. Warum sollte sie wegen einer Hypothese Groll heraufbeschwören?
Doch dann wurde es ein Mädchen, und nachdem sich der frischgebackene Vater von
seinem ersten Schock erholt und alle hochtrabenden Pläne verabschiedet hatte,
wollte er, dass das Mädchen zumindest Josefina oder Josefa getauft werden
sollte, doch das schlug ihm Bettina rundheraus ab. „Möchtest Du, dass unsere
Tochter wegen ihres Namens ständig gehänselt wird? Kinder können so grausam
sein“, führte sie ins Treffen, und Josef drehte am Absatz um und ging. „Lara
heißt sie“, sagte Bettina, als die Krankenschwester kam und die junge Mutter um
ihre Entscheidung fragte. „Ein netter Name“, murmelte die Schwester abwesend,
schlang ein Band mit dem Namen um Laras schmales Handgelenk und ging wieder.
Bettina alleine hatte den Namen für ihre Tochter ausgewählt. War das bereits
ein Vorzeichen?
„Bitte lieber
Gott, lass sie wieder aufwachen!“, ging es immer noch rhythmisch durch Bettinas
Kopf, und sie dachte daran wie ihre kleine Lara das erste Mal in ihren Armen
lag. Sie wollte und wollte nicht aufwachen. Doch sie wirkte zufrieden.
Stundenlang saß Bettina neben ihrem Bett und wartete auf ein Lebenszeichen, so
wie jetzt, knapp fünfzehn Jahre später. Allein saß sie am Bett ihrer Tochter. „Ich
habe morgen so viel Arbeit. Du machst das schon“, erklärte Josef überzeugt, als
der Krankenwagen kam und Lara holte. „Wieder einmal hat er sich aus der Affäre
gezogen“, dachte Bettina voller Bitterkeit, und wieder hatte sie kein Wort
gesagt, aber was hätte sie sagen sollen, während ihre Tochter halb tot war? Ihr
Blick fiel auf den Kaminsims. Dort stand ein Bild von Lara. Sie hatte die
Schultüte in der Hand. Ihr erster Schultag. Wie weit schien das weg zu sein.
Und Lara lachte.
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