2504 Der Kuss


Der Kuss


Ich saß, verwöhnt von den wärmenden Strahlen der Sonne, im weitläufigen Innenhof der Universität im Gras. Das gab es damals noch, und man durfte es auch. Neben mir der obligatorische Kaffee, zwischen meinen Fingern eine Zigarette und auf meinen Knien ein Buch (und ein ganzer Satz ohne Verbum). Ich hatte eine halbe Stunde Zeit zwischen der einen und der nächsten Vorlesung. Eine halbe Stunde, in der gut einmal kurz die Welt gerettet werden hätte können, doch ich beschränkte mich darauf ein Buch zu lesen. Selbstverständlich war ich unausgeschlafen (ein altes, mittlerweile chronisches Leiden, wovon es keine Heilung gibt.), und ich achtete sorgfältig darauf mich so wenig wie möglich zu bewegen. Schließlich mußte ich meine Kräfte einteilen. Ich war also in mein Buch vertieft, als plötzlich ein Schatten darauf fiel und mir das Lesen erschwerte. Verwirrt blickte ich auf, und vor mir saß ein junger Bursche, mit schwarzen Wuschelhaaren und sanften, braunen Augen. Ich war ein wenig verwirrt und wohl auch ratlos, denn normalerweise wagte als niemand sich mir zu nähern, wenn ich in ein Buch vertieft war. Offenbar hatte ich da meinen Medusa-Blick, aber dieser Bursche hatte es gewagt, und dass er mich meinte war nicht zu übersehen, denn er war mir im Ganzen, mit seinem Körper, seinen Händen, seinen Blick zugewandt. Und ohne jede weitere Einleitung sagte er: „Du solltest das lassen.“ Unschlüssig drehte ich das Buch in meiner Hand nach allen Seiten, wohl um sichtbare Fehler daran zu entdecken, denn ich wußte nicht, was er gegen Emmanuel Lévinas zu sagen hatte. Also fragte ich automatisch, denn diese Frage funktioniert immer und in allen Lebenslagen: „Warum?“ „Ich meine nicht das Lesen.“, antwortete er lachend, „sondern das Rauchen.“ Das war nun ein Thema auf das ich gar nicht gut zu sprechen war, denn schließlich ging es niemanden etwas an, wenn ich mich ruinierte. Deshalb war ich noch verwirrter, weil ich so ruhig blieb. „Das geht nicht und das will ich nicht!“, erwiderte ich kurz und prägnant, trotzdem bemüht nicht allzu unhöflich zu klingen. „Du bist wohl als Kind nicht gestillt worden?“, fragte er unbekümmert weiter. „Ja, bin ich nicht. Woher weißt Du das?“, gab ich verwundert zurück. „Das ist ganz einfach. Du sitzt allein hier, mit Kaffee und Zigarette. Das bedeutet, Du bist oral unbefriedigt. Und ich weiß einen Rat dagegen. Ersetze Nikotin durch Endorphine.“, und ohne sich weiters um meinen erstaunten Blick zu kümmern, legte er sanft seine Hand auf meinen Nacken, zog mein Gesicht zu seinem, näher und näher, bis unsere Lippen sich berührten, sich zum Kuss vereinten. Ich fühlte mich berührt, zutiefst innerlich berührt. War wie eine, nein, wie viele Hände, die mich inwendig streichelten, ließen mich weit und leer werden. Es war wohl nur ein kurzer Moment, und doch schien er alle Zeiten in sich zu vereinen. Als er meine Lippen wieder freigab, war es mir, als würde ich aus einem langen Traum in den Sonnenschein, ins Hier, zurückkehren. So unvermutet wie er gekommen war, ging er wieder. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, und sah ihn auch niemals wieder, aber sein Kuss blieb mir eingebrannt.

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