2705 Du hast mich verraten


Du hast mich verraten


Meistens, oder fast immer, möchte ich nach Lesungen, nach den Diskussionen, die mir sehr viel bedeuten, einfach alleine sein, den Abend zu überdenken und all die Gedanken, die ich geschenkt bekommen habe, zu ordnen, anzunehmen was gut und förderlich ist und das andere wegzulassen. Wobei nicht unbedingt das wegzulassen, was Kritik bedeutet, sondern es zu überdenken, so weit es geht vorurteilsfrei. Es war ein wunderschöner, warmer Abend, eine stille, helle Nacht, so dass ich in den Park ging und mich auf eine Bank setzte. Manchmal ist es gut, einfach alleine zu sein, als er auftauchte, wie aus dem Nichts und sich ungefragt zu mir setzte. Ich blieb wo ich war, in meinen Gedanken, obwohl sich bereits eine kleine Irritation einschlich, doch ich durfte nicht bleiben, wurde zurück geholt, unsanft.
„Ich war auf Deiner Lesung“, begann er zu berichten.
„Das freut mich“, sagte ich leichthin.
„Es war nicht das erste Mal“, sprach er weiter, und da endlich hatte er es geschafft, dass ich genauer hinsah, doch ich musste mir eingestehen, dass er mir nicht bekannt vorkam, aber man will ja nicht unhöflich sein.
„Das ist schön, dass es Dir offenbar gefallen hat“, merkte ich an, so vage wie möglich bleibend.
„Ich war bei jeder Lesung bis jetzt, bei jeder einzelnen, und ich habe jeden einzelnen Moment genossen. Deine Geschichten sind so schön, so tief und so beeindruckend, jede einzelne“, redete er ungebremst weiter, und hier wurde ich skeptisch. Natürlich, ich wollte ja, dass meine Geschichten gefallen und ansprechen, aber niemals konnte es sein, dass jemanden jede dieser Geschichten gefiele, ohne Ausnahme. Hatte ich doch selbst meine Prioritäten.
„Und warum gefallen Dir meine Geschichten so gut?“, fragte ich, immer noch vorsichtig.
„Weil sie so nahe gehen, weil sie so aus dem Leben gegriffen sind, weil ich jedes Wort nachvollziehen kann, weil sie mich vorwärtsbringen und beflügeln“, antwortete er, so schnell, als wäre die Antwort eingelernt, und da wurde mir doch ein wenig mulmig zumute.
„Das ist wirklich ein großes Kompliment, aber dennoch fällt es mir schwer zu glauben, dass wirklich jedes Wort, jeder Gedanke sitzt“, wagte ich anzumerken.
„Ja, ja, die Selbstzweifel der Künstlerin. Aber das kennen wir doch sehr gut. Nein, Du kannst mir vertrauen, da gibt es nichts was nicht sitzt, nichts, was da nicht passend wäre“, erklärte er mit voller Überzeugung, „Und vor allem, Du hast ja das alles für mich geschrieben.“
„Aber ich habe Dich erst in diesem Moment zum ersten Mal gesehen“, warf ich ein. Jetzt war es so weit, er machte mir Angst.
„Das macht gar nichts. In Deinem Herzen wusstest Du um mich, wusstest, dass Du auf ein Du hinschreibst, das ich war und ich bin. Ich weiß es, und Du weißt es nun auch. Ich bin es, den Du immer schon geliebt hast, ohne es benennen zu können, nach dem Du Dich gesehnt und verzehrt hast“, erklärte er mir, und ein kalter Schauer ergriff mich.
„Ich denke, Du gehst jetzt und kommst nie wieder. Ich kenne Dich nicht, und nach dem was Du mir nun sagtest, will ich Dich auch gar nicht kennen“, sagte ich so barsch und kalt wie möglich.
„Ach so ist das? Jetzt habe ich Dich über all die Jahre unterstützt und Dir alles gegeben, und dann, wenn die gnä Frau Erfolg hat, dann wird man weggeworfen wie ein alter Socken. So wird es einem gedankt. Ich dachte immer, es steckte wirklich Tiefe in Deinen Texten, aber ich sehe, Du bist als Mensch ganz anders. Du benutzt die Menschen nur zu Deinem Vorteil. Und das werde ich jetzt auch allen erzählen, was Du für eine bist“, meinte er abschließend. Es war der Moment, wo ich ging.

Und ja, ich will mit meinen Geschichten berühren, ich will ankommen und zum Nachdenken animieren, aber ich schreibe nicht um nur einen zu erreichen und nicht für jemanden ganz speziell, sondern für jeden, der ein offenes Ohr und ein offenes Herz hat.

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