Versteck Dich gut
„Wie herrlich es sein muss, nur einmal möchte ich dort
sein“, dachte sie, während sie die Postkarte in ihrer Hand betrachtete, voller
Sehnsucht und Verzweiflung. Die abgewetzten Ecken, die verschmierte Schrift auf
der Rückseite zeigten wie lange diese Postkarte schon in ihrem Besitz war und
wie oft sie sie zur Hand genommen hatte. Manchmal dachte sie, dass es diesen
Ort, diesen Ort mit den Steilhängen und den sich brechenden Wellen, den saftig
grünen Wiesen und der Weite gar nicht gab. Manchmal dachte sie sich, das
entspränge einer Phantasie, einer hoffnungsfrohen Phantasie. Und gleichzeitig war
sie überzeugt daven, dass sie einmal dorthin kommen würde, und sie würde sich
den Wind um die Ohren wehen lassen, der den Duft von Salz und Meer mit sich
trug, würde auf der Klippe stehen und in die Weite sehen. Irgendwann. Die
Postkarte war nicht an sie gerichtet gewesen, sondern an ihn. Eines Tages hatte
sie diese gesehen und heimlich eingesteckt. Natürlich hatte sie ein schlechtes
Gewissen. Schließlich nahm sie ihm etwas weg, etwas, das ihr nicht gehörte.
Doch er hatte nie danach gefragt, als wenn es ihm gar nicht aufgefallen wäre.
Dennoch versteckte sie die Postkarte sehr sorgfältig. Er könnte böse werden,
wenn er es herausfände. Nicht nur, weil sie die Karte entwendet hatte, sondern
weil sie Bescheid wusste, dass es die Weite gab und ein Draussen, jenseits der
Enge dieses Zimmers. Sehr, sehr böse würde er werden. Das wollte sie nicht,
wollte nicht riskieren, dass er böse mit ihr sei, denn er war doch immer so gut
zu ihr gewesen, hatte sie versorgt und umsorgt, doch vor allem in Sicherheit
gebracht. Jenseits dieses Zimmers, in dem sie eingesperrt war, jenseits davon
lauerte etwas, etwas sehr Böses, das wusste, sie, weil er es ihr gesagt hatte.
Irgendwann würde es vorbeigehen, doch bis dahin müsste sie hier bleiben und er
würde auf sie aufpassen. Zuerst ging der Vater, dann die Mutter, dann die große
Schwester. „Sie sind nach draußen gegangen, zu diesem Bösen“, hatte er ihr
gesagt, auch wenn er sie eigentlich schonen wollte, doch sie musste die
Wahrheit erfahren, und die Wahrheit war nun mal wie sie wahr, hässlich und
grotesk. Vielleicht konnte er die Worte milde klingen lassen, aber das machte
sie nicht weniger hässlich, nicht weniger grotesk, „Sie sind zu diesem Bösen
gegangen und es hat sie verschlungen. Sie werden nie mehr wieder kommen.“ Und
dann hatte sie geweint und er hatte sie umarmt. Sie sagte kein einziges Wort
mehr. Einmal, bloß ein einziges Mal während all der Jahre hatte sie versucht zu
fragen: „Wie sieht es denn aus dieses Böse?“ „Frag nicht danach. Ich will nicht
daran denken, und allein eine Andeutung würde Dich völlig zerstören“, hatte er
sie angeherrscht, um dann sofort zu beschwichtigen, „Meinst Du denn, es macht
mir Spaß Dich hier einzusperren, aber es ist doch zu Deinem Besten.“ „Und was
ist, wenn Du auch nicht wiederkommst, wenn das Böse auch Dich mit sich
fortreißt?“, fragte sie, und ihre Augen sahen ihn an, schreckgeweitet. „Ich
werde immer zurückkommen“, hatte er versprochen. Doch jetzt war er lange nicht
mehr dagewesen. Sie hatte gelernt zu warten. Sie hörte auf das kleinste Geräusch,
aber sie hörte nichts als das Schlagen ihres eigenen Herzens. Als man sie fand,
vertrocknet und abgemagert bis auf die Knochen, hielt sie die Postkarte immer
noch in ihren leblosen Händen. Ihre Mutter und ihren Vater und ihre Schwester
fand man auch. Das Böse hatte sie erschlagen, und das Böse war er, doch das
hatte sie nicht wissen können, die nichts mehr hatte als ihre Sehnsucht und die
Postkarte. Irgendwann hätte er auch sie erschlagen, wenn er nicht zuvor von der
Polizei festgenommen worden wäre. Ein paar Tage zu spät, zumindest für sie. Sie
hatte auf ihrem Bett gelegen und gewartet, dass er wiederkäme. Sie konnte nicht
hinaus, denn sie eingesperrt. Sie hatte zu große Angst, wagte nicht einmal
einen Versuch. Hätte sie es getan, wäre sie zur Tür gegangen und hätte die
Schnalle hinuntergedrückt, sie hätte gemerkt, dass die Tür nicht verschlossen
war.
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