Ordnung ist das halbe Leben
„Was suchst Du denn jetzt schon wieder?“, fragst Du, die
Hände distinguiert in die Hüften gestemmt.
„Eigentlich hast Du die Hände nicht in die Hüften, sondern
in die Taille gestemmt, und überhaupt, wieso in, wenn dann auf. In würde
stimmen, wenn Du 150 kg hättest, und Deine Hände beim Stemmen so in den
Speckfalten verschwinden, aber dann wären sie immer noch auf und nicht in. Es
geht also nicht“, merke ich nachdenklich an.
„Du stellst Dir aber jetzt nicht wirklich vor wie ich
aussähe, wenn ich 150 kg hätte?“, unterbrichst Du mich unflätig.
„Aber woher denn, würde mir nie im Traum einfallen, so mit
Speckröllchen und Doppelkinn und faltenlosen Gesicht und ...“, gebe ich zurück.
„Es reicht! Was suchst Du?“, wirst Du zusehends immer
unwirscher.
„Ich suche? Ach ja, ich suche, meinen Bleistift“, antworte
ich.
„Aber dort drüben in der Stiftebox sind mindestens fünf
Bleistifte“, gibst Du zurück.
„Da sieht man, Du verstehst nichts von Bleistiften. Ich
suche einen ganz Bestimmten, und der ist nicht dort. Du verwendest ja auch
nicht für alles den selben Topf“, gebe ich kopfschüttelnd zurück.
„Du willst doch nicht wirklich einen Topf mit einem
Bleistift vergleichen?“, fragst Du erstaunt.
„Nein, ich will nicht vergleichen, ich will finden“,
entgegne ich kurz.
„Dann solltest Du ihn dort zu den anderen geben, überhaupt
alles an den Platz, an den des gehört, dann müsstest Du nicht ständig danach
suchen. Das kommt davon, weil Du so schlampig bist. Es heißt nicht umsonst,
Ordnung ist das halbe Leben“, belehrst Du mich umgehend.
„Ja, weil man die Hälfte des Lebens damit vertut sie ständig
zu halten. Ordnung halten ist mühsam und kostet Zeit, viel mehr als ich fürs
Suchen brauche. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Ordnung um der Ordnung
halber gehalten wird, und nicht, weil es einem dienen soll. Nein, da bleibe ich
lieber bei meinem System. Mitten im kreativen Chaos entstehen auch die
herrlichsten Gedanken. Ohne das Chaos wäre manche Geschichte nicht entstanden,
wenn Dinge beisammen liegen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Ordnung
zerstört das Kreative, weil dort wo nur Dinge zusammen kommen, die zusammen
gehören, kann kein neuer Gedanke entstehen, und es sind doch tolle Momente,
wenn man unvermittelt etwas findet, wo man es gar nicht vermutet hätte. Halt es
Du wie Du willst, ich lasse mir meine Kreativität nicht nehmen“, sage ich
überzeugt.
„Und dennoch, alles was Du sagst ist ein Herumreden um die
Tatsache, dass Du einfach zu faul bist Ordnung zu halten, nichts weiter. Ich
kann mir auf jeden Fall nicht vorstellen, dass Du Dich in Deinem Chaos wohl
fühlst. Ordnung mag jeder“, behauptest Du unumwunden.
„Wieso weißt Du das? Hast Du jeden gefragt?“, gebe ich
schnippisch zurück, „Du schließt schon wieder unheimlich schlüssig von Dir auf
andere. Aber ich weiß mit Gewissheit,
ich hätte vieles nicht gefunden, wenn ich es nicht gesucht hätte.“
„Klar, wenn Du nicht suchst, kannst du nicht finden“,
erwiderst Du trocken.
„Weißt Du was, wir genießen jetzt mal den anderen Teil des
Lebens und machen einen Ausflug“, schlage ich vor, und ohne eine Antwort
abzuwarten, nehme ich Dich an der Hand und mit, während die andere einen
Bleistift, den sie die längste Zeit hielt, gedankenlos hinters Ohr steckte.
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