Unglück ist relativ
Wie ein Häufchen Elend sah sie aus, als sie zu mir kam, an
diesem Abend. Nicht nur die Mundwinkel, sondern auch die Schultern ließ sie
hängen, als hätte sie eine Zentnerlast zu tragen, und ihre Augen waren rot, das
Make-up verwischt. Die Tränen waren weggewischt, aber dennoch war es
unübersehbar.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich und suchte so viel
Mitgefühl wie möglich in meine Stimme zu legen.
„Du hast recht, ich sehe schrecklich aus“, entgegnete sie
kopfschüttelnd.
„Das habe ich nicht gesagt, nicht gemeint und nicht
gedacht“, gab ich zu bedenken, „Ich fragte Dich nur was passiert ist, weil ich
sehe, dass Du traurig bist.“
„Siehst Du, Du sagst es doch, dass ich schrecklich aussehe,
und Du hast ja auch recht“, blieb sie hartnäckig bei ihrer Auslegung meiner
Worte, „Aber ich habe es eben immer noch nicht gelernt, dass man gut daran tut,
wasserfestes Make-up zu kaufen, wenn man so nahe am Wasser gebaut hat wie ich.
Aber das ist immer so schlecht zum Abschminken. Ein Dilemma aus dem ich noch
keinen Ausweg gefunden habe.“
„Und darüber bist Du traurig?“, fragte ich irritiert und
wohl auch ein wenig erstaunt.
„Aber nein, auch wenn es eigentlich schon ein Grund wäre
unglücklich zu sein, zumindest so lange man keinen besseren hat“, gab sie
unumwunden zu. Es ist nicht leicht sich auf solch eine Denkweise einzustellen,
musste ich mir selbst eingestehen.
„Also bist Du über etwas anderes unglücklich?“, fragte ich
weiter, denn noch vermochte ich Mitgefühl aufzubringen, denn offenbar gab es
etwas Wichtigeres in ihrem Leben als die Frage nach wasserfestem Make-up oder
eben nicht.
„Ja, sehr sogar, es geht um meinen Mann. Weißt Du, er ist ja
die Liebe meines Lebens, und wir sind füreinander bestimmt, davon bin ich
überzeugt, aber manchmal macht er mich wirklich sehr unglücklich“, sagte sie
seufzend, „Und vor allem muss ich mich restaurieren, bevor ich ihm wieder unter
die Augen treten kann.“
„Aber wenn er Dich auch so liebt, dann würde er Dich doch
niemals unglücklich machen!“, sagte ich, mit dem Brustton der Überzeugung.
„Gerade weil er mich liebt macht er mich unglücklich“, gab
sie mit der Bestechung weiblicher Logik zurück.
„Aber was macht e denn, trinkt er vielleicht?“, versuchte
ich einen Neustart.
„Das schon, aber das muss ein Mann doch ab und zu machen.
Nein, das stört mich nicht“, gab sie zurück.
„Schlägt er Dich vielleicht?“, fragte ich weiter.
„Na ja, ab und zu, aber nur, wenn er was getrunken hat. Da
kann man ihm dann auch keinen Vorwurf machen, das macht der Alkohol mit ihm,
sonst würde er mir nie weh tun, und er tut es ja auch immer so, dass man nichts
sieht. Da ist er doch ausgesprochen rücksichtsvoll. Findest Du nicht?“,
erklärte sie bestimmt.
„Tut er Dir sonstwie Gewalt an?“, fragte ich umständlich.
„Ach Du meinst vergewaltigen oder so. Na ja, vielleicht,
aber das kann man auch nicht so sagen, ich kann ja schließlich schlecht Nein
sagen bei meinem eigenen Mann, nein, das macht mich nicht unglücklich“,
erklärte sie entschieden.
„Dann betrügt er Dich vielleicht?“, versuchte ich es
nochmals.
„Ein bisschen vielleicht, aber das macht nichts. Ein Mann
muss doch ab und zu vergleichen, und dann merkt er, dass er es bei mir am
besten hat, und kommt wieder zu mir zurück“, antwortete sie lapidar.
„Aber jetzt fällt mir wirklich nichts mehr ein. Was macht
Dich dann bitte so unglücklich?“, stieß ich heraus.
„Dass er nicht bemerkt hat, dass ich eine neue Frisur habe“,
erwiderte sie gekränkt. Wortlos stand ich auf und ging, denn mein Mitgefühl hat
offenbar sehr eng gesetzte Grenzen.
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