Einblicke
Es war mittlerweile dunkel
geworden, während wir uns im Restaurant der Fähre mit dem wohlklingenden Namen
„Oskar Wilde“ einfanden. Die Iren werden ganz offensichtlich nicht müde sich
mit ihren berühmten Namen zu schmücken, wobei geflissentlich darüber
hinweggesehen wird, dass der Träger dieses klingenden Namens zwei Jahre wegen
homosexueller Handlungen im Gefängnis saß, woran er auch zerbrach, aber das
kommt nicht nur in Irland vor. Letztendlich erteilen sie ihm doch noch die
gebührende Ehre. Sarah und Jonas Wegener, so hatte sich mir das Paar
mittlerweile vorgestellt, wollte ein Monat in Irland verbringen. Sie hatten
schon beinahe alle Teile der Welt bereist, doch in Irland waren sie noch nicht
gewesen.
„Wohin führt Sie Ihr Weg genau?“,
fragte ich weiter, nachdem ich endlich ein schmackhaftes Abendessen vor mir
stehen hatte.
„Auf die Halbinsel Dingle. Wir
wollen dort, einem uralten Pilgerweg folgend, die Halbinsel erkunden. Und wie
kann man ein Land besser kennenlernen als zu Fuß?“, erklärte Sarah Wegener, als
wäre das heutzutage das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Das ist wahrscheinlich wahr“, gab
ich nachdenklich zu, „Aber da bekommt
man doch nur einen kleinen Eindruck. Und die meisten Menschen müssen so viele
Eindrücke wie möglich in immer kürzerer Zeit schaffen, am besten das ganze Land
in einem Tag.“
„Ja, das ist uns durchaus bewusst,
doch wieviele von den Eindrücken sind bleibend, die man quasi im Vorbeifliegen
einsammelt, schnell mal zwei Schnappschüsse macht und schon fährt man im
größtmöglichen Tempo wieder weiter“, entgegnete Jonas Wegener ruhig, „Wir
kennen das nur allzu gut. Bei unseren Einsätzen in allen Teilen der Welt
machten wir nichts anderes. Wir flogen hin, auf dem schnellsten Weg, der
möglich war, kümmerten uns um die Verletzten und flogen wieder weiter. Aber da
musste es auch schnell gehen, denn nur schnelle Hilfe ist gute Hilfe. Doch vom
Land und den Menschen haben wir sehr wenig gesehen. Doch das war schließlich
auch nicht das Ziel. Aber jetzt haben wir Zeit und wir wollen nicht Eindrücke
stapeln, sondern die, die wir haben auch lebendig erfahren.“
„Quasi mit allen Sinnen“, fügte
seine Frau hinzu, „Zu sehen, zu riechen, zu fühlen, der Witterung ausgesetzt,
ohne auszuweichen.“
„Ohne auszuweichen ...“,
wiederholte ich leise und gedankenverloren. Man kann nicht nur der Witterung
ausweichen, indem man sich im Haus verbarrikadiert, man kann auch der
Unvorhersehbarkeit ausweichen, die in der Begegnung mit anderen liegt. Man kann
dem Leben ausweichen, indem man sich einen Barnabas zulegt, dachte ich für
mich, um im gleichen Moment ob meiner eigenen Gedanken zu erschrecken. Nein,
ich weiche nicht aus, maßregelte ich mich selbst, und Barnabas, der tat mir
doch gut, doch ich spürte auch, dass ich bereits erhebliche Kräfte darauf
verwenden musste diese Illusion aufrecht zu erhalten.
„Und was treibt Sie nach Irland?“,
fragte Jonas mich.
„Ich möchte ein Buch schreiben, zurückgezogen
und auch ohne auszuweichen“, erklärte ich, mit dem bitteren Nachgeschmack der
Gewissheit, dass selbst diese kurze Antwort ein Ausweichmanöver war. Kein Wort
konnte und durfte ich über Barnabas verlieren. Da erst wurde mir bewusst, dass
Sarah und Jonas Wegener offenbar nicht wussten wer ich bin. Oder überspielten
sie es nur gekonnt? Ich ertappte mich, dass ich mich auf Lauerstellung begab,
ob da nicht irgendetwas kam, was sie verraten würde, doch da war nicht der
kleinste Hinweis.
„Fremde sind Freunde, die man noch
nicht kennengelernt hat, ist unser Motto“, erklärte mir Jonas, als wir uns vor
unseren Kabinen voneinander trennten, „Und ich kann Ihnen versichern, wir sind
damit immer gut gefahren.“
Es war ein netter Abend gewesen in
der Gesellschaft von Menschen, die mir noch ein paar Stunden zuvor völlig fremd
waren, aber ich brauchte das nicht, mir genügte Barnabas.
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