1411 Die „gsunde Watschn“


Die „gsunde Watschn“


Es war in der Kindergruppe. Jeden Mittwoch trafen sich hier Mütter mit ihren Kindern, im Alter von ein paar Monaten bis zu drei Jahren. Die Kinder sollten in Kontakt mit anderen kommen, da die meisten Einzelkinder waren und diese Erfahrung somit nur außer Haus möglich ist. Der Ablauf dieser zwei Stunden war immer derselbe. Zuerst wurde gesungen und Spiele gemacht, und dann gejausnet und die Kinder sollten untereinander spielen. Manche taten es. Andere nicht. Je nach Alter und Laune. Und selbst wenn meine Tochter die ganze Stunde auf meinem Schoß saß, akzeptierte ich es. Soziale Erfahrungen sind schön und gut, aber ich dachte nicht im Traum daran sie dazu zu zwingen. Zu wie vielem wird sie in ihrem Leben noch gezwungen werden, nicht nur durch andere, sondern auch durch sich selbst. Heute war einer dieser Vormittage, an denen sie sich unter die Kinder mischte und mit ihnen spielte. Oder eigentlich spielte sie nur mit Lara. Lara war ein Monat älter als meine Tochter und erst seit kurzem bei der Gruppe, da ihre Eltern erst hergezogen waren. Dementsprechend schüchtern war sie noch. Immer wieder versuchte ihre Mutter sie dazu zu bewegen doch mit anderen zu spielen, oder sich zumindest von ihr fernzuhalten, während wir saßen, Kaffee tranken und jausneten. Immer wieder stand Lara bettelnd hinter ihrer Mutter, bettelnd um Aufmerksamkeit. Sie fühlte sich nach wie vor unsicher in der Gruppe, und deshalb suchte sie Halt bei dem einzigen Menschen, der ihr wirklich vertraut war, doch jedes Mal wurde sie weggeschickt. Die ersten Male war Laras Mutter noch freundlich, doch auch hier spürte ich den angespannten Ton in ihrer Stimme. Danach wurde sie zusehends unfreundlicher.
„Kannst Du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Geh und spiel. Ich will mich hier unterhalten“, erklärte sie brüsk. Mit hängenden Schultern trollte sich Lara wieder, um ein paar Minuten später den nächsten Anlauf zu wagen, doch die Reaktion war die Gleiche. In dem Moment kam meine Tochter zu mir. Sie wollte mir etwas zeigen, etwas, das sie gebaut hatten. Ich ließ mich an der Hand nehmen und ging mit ihr mit. Es war wirklich ein toller Turm geworden, und ich unterließ es nicht sie zu loben, zumal ich ja wusste, dass sie eine Woche zuvor noch nicht die Geduld gehabt hätte. Dann war sie sofort wieder in ihr Spiel vertieft und ich ging zurück zu meinem Platz.
„Du wirkst so entspannt“, wandte sich nun Laras Mutter an mich, „Geht Dir das nicht auf die Nerven, wenn sie ständig etwas von Dir wollen?“
„Nein, weil ich die Entscheidung getroffen habe Kinder zu bekommen und damit die Verantwortung übernommen habe. Es ist meine Pflicht für sie da zu sein, wenn sie mich braucht“, entgegnete ich überzeugt.
„Ach ja? Du hast sicher eine Oma, die sie Dir abnimmt oder einen von diesen Supermännern, die Dich unterstützen“, erklärte sie trocken.
„Nein, weder das eine noch das andere“, gab ich zurück.
„Dann hast Du ein besonders braves Kind und ...“, mutmaßte sie weiter, doch weiter kam sie nicht, denn schon wieder stand Lara da, suchte Hilfe und Schutz, und ich sah wie sich die Augen von Laras Mutter zu Schlitzen verengten, als sie sich zu ihr umwandte, „Du sollst mir nicht auf die Nerven gehen.“ Und dann hörte ich ein Klatschen. Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill, nur das leise Schluchzen von Lara war zu vernehmen. Ihre Mutter fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut, denn aller Augen waren auf sie gerichtet.
„Was ist?“, entschied sie sich für einen Gegenschlag, „So eine ‚gsunde Watschn’ hat doch noch keinem geschadet!“
„Auf jeden Fall ist es ein Armutszeugnis und eine Bankrotterklärung. Wie erbärmlich muss man sein, wenn man jemanden schlagen muss, der so völlig hilflos und abhängig ist? Es ist widerlich und verabscheuungswürdig!“, entgegnete ich ruhig und mit Überzeugung.
Und trotz allem sieht ein Drittel der Österreicher die sog. „gsunde Watschn“ immer noch als probates Erziehungsmittel, doch das einzige was damit erreicht wird ist die Weitergabe von Gewalt. Absolut nichts auf der Welt rechtfertigt diese gegenüber einem Kind.
Laras Mutter sprang auf und schnappte ihre Tochter und verließ die Gruppe. Manchmal habe ich sie noch getroffen, doch kein einziges Mal sah ich Lara lachen.

Keine Kommentare: