Vertrauenswürdige Betrüger
Um ein System zu
verstehen, es im ganzen zu überblicken, so heißt es, muss man sich aus diesem
hinaus begeben und es von außen betrachten. So kann man sich z.B. das System
Familie vorknöpfen und es als Außenstehender betrachten. Hinderlich ist jedoch,
dass diejenigen, die wohl voll des guten Willens und der besten Absichten – das
will ich hier mal unhinterfragt unterstellen – handeln und niemals nicht von
irgendwelchen ideologischen Vorgaben geleitet sind, ebenfalls in einem System
sozialisiert wurden, das sich Familie nennt. Das bedeutet, dass sie, selbst wenn
sie nicht in dem konkreten System Familie, das sie untersuchen, eingebunden
sind, so haben sie doch immer bestimmte Vorerfahrungen, die sie an einem
objektiven Blickwinkel hindert. D.h. sie sind halb blind. Dementsprechend kann
eigentlich nur jemand ein System objektiv untersuchen, wenn er noch keine
Vorerfahrungen hat. So könnte das System Familie nur ein Außerirdischer
untersuchen, wobei natürlich zuvor abgeklärt werden muss, ob es auf seinem
Heimatplaneten nicht etwas Ähnliches gibt. Das gestaltet sich also nicht sehr
praktisch, außer man hat gerade einen Außerirdischen bei der Hand, was nicht so
oft der Fall sein wird. Aber wie könnte es dann gehen. Die Lösung ist so
naheliegend wie einfach. Man braucht jemand mit einem objektiven Blick, der
zumindest noch nicht allzu deformiert ist von Vorgaben und bereits getanen
Sozialisierungsverbiegungen, und solche Menschen gibt es zum Glück immer noch
in sehr großer Zahl. Man nennt sie Kinder, und weil ich mir das System Bank aus
diesem Blickwinkel anschauen wollte, borgte ich mir zu diesem Behufe ein Kind
von meiner Nachbarin. Die kleine Flora war gerade mal fünf Jahre alt und galt
als aufgewecktes Kind. Ihre Mutter nannte es anstrengend, aber das ist eine
andere Geschichte. Gemeinsam mit Flora besuchte ich also eine Bank, und nachdem
wir alles wissen wollten, gingen wir direkt zum Direktor – man sieht, es ist
eine fiktionale Geschichte, auch wenn die Conclusio für alle Banken gelten
wird.
„Hallo, Herr Direktor“,
sagte Flora brav und reichte ihr die Hand.
„Hallo Flora, nimm doch
bitte Platz. Darf ich Dir einen Kaffee anbieten?“, antwortete der Direktor
liebenswürdig, und nachdem Flora auf ihren Platz geklettert war, sagte sie
stirnrunzelnd, „Du kennst Dich wohl nicht gut mit Kindern aus. Ich bin fünf und
trinke keinen Kaffee. Ich will einen Kakao.“
„Was kann ich für Dich
tun?“, fragte der Direktor, nachdem er seine Sekretärin angewiesen hatte einen
Kakao zuzubereiten, und wenn sie ihn selber kochen müsse, denn schließlich
stünde die Zukunft der Bank auf dem Spiel, hier sitze die zukünftige Klientel.
„Was macht eine Bank?“,
fragte Flora direkt.
„In einer Bank wird Geld
eingesammelt“, antwortete der Direktor, „Viele, viele Leute bringen uns ihr
Geld. Wir sammeln es und geben es anderen, die viel Geld brauchen.“
„Und das machen die
Menschen freiwillig?“, fragte Flora ungläubig, „Also wenn ich Geld hätte, dann
würde ich mir was kaufen und es nicht einfach wieder hergeben.“
„Aber die Menschen
bekommen ihr Geld ja wieder zurück“, meinte der Direktor.
„Also geben sie es Dir,
damit Du es wieder zurückgibst. Das ist aber ganz schön blöd. Da kann ich es
gleich behalten“, erklärte Flora voll Überzeugung.
„Die Menschen geben uns
ihr Geld, weil sie mehr zurückbekommen“, ergänzte der Direktor, „Und das was
sie mehr bekommen nennt man Zinsen.“
„Und wie machst Du das,
dass das Geld mehr wird? Kriegt es Kinder?“, fragte Flora ungläubig.
„Nein, aber die, denen wir
das Geld geben, die geben und das Geld wieder zurück und auch mehr, als wir
ihnen gegeben haben“, antwortete der Direktor.
„Darf ich das Geld einmal
sehen?“, forderte Flora.
„Nein, weil wir kein Geld
da haben“, erwiderte der Direktor, und das Entsetzen stand ihm auf die Stirn
geschrieben.
„Du nimmst also Geld und
versprichst es zurückzugeben, obwohl Du das Geld gar nicht hast, weil Du es
anderen gibst, und meinst auch noch, Du kannst mehr zurückgeben, obwohl es
keine Kinder bekommt? Und das glaubt Dir jemand?“, fasste Flora zusammen.
„Glaubst Du es denn nicht?“,
fragte der Direktor, der von der Überzeugungskraft seiner Ausführungen
überzeugt war.
„Ich bekomme ja nicht
einmal den Kakao, den Du mir versprochen hast“, sprach die kleine Flora und
ging.
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