1811 Vertrauenswürdige Betrüger


Vertrauenswürdige Betrüger


Um ein System zu verstehen, es im ganzen zu überblicken, so heißt es, muss man sich aus diesem hinaus begeben und es von außen betrachten. So kann man sich z.B. das System Familie vorknöpfen und es als Außenstehender betrachten. Hinderlich ist jedoch, dass diejenigen, die wohl voll des guten Willens und der besten Absichten – das will ich hier mal unhinterfragt unterstellen – handeln und niemals nicht von irgendwelchen ideologischen Vorgaben geleitet sind, ebenfalls in einem System sozialisiert wurden, das sich Familie nennt. Das bedeutet, dass sie, selbst wenn sie nicht in dem konkreten System Familie, das sie untersuchen, eingebunden sind, so haben sie doch immer bestimmte Vorerfahrungen, die sie an einem objektiven Blickwinkel hindert. D.h. sie sind halb blind. Dementsprechend kann eigentlich nur jemand ein System objektiv untersuchen, wenn er noch keine Vorerfahrungen hat. So könnte das System Familie nur ein Außerirdischer untersuchen, wobei natürlich zuvor abgeklärt werden muss, ob es auf seinem Heimatplaneten nicht etwas Ähnliches gibt. Das gestaltet sich also nicht sehr praktisch, außer man hat gerade einen Außerirdischen bei der Hand, was nicht so oft der Fall sein wird. Aber wie könnte es dann gehen. Die Lösung ist so naheliegend wie einfach. Man braucht jemand mit einem objektiven Blick, der zumindest noch nicht allzu deformiert ist von Vorgaben und bereits getanen Sozialisierungsverbiegungen, und solche Menschen gibt es zum Glück immer noch in sehr großer Zahl. Man nennt sie Kinder, und weil ich mir das System Bank aus diesem Blickwinkel anschauen wollte, borgte ich mir zu diesem Behufe ein Kind von meiner Nachbarin. Die kleine Flora war gerade mal fünf Jahre alt und galt als aufgewecktes Kind. Ihre Mutter nannte es anstrengend, aber das ist eine andere Geschichte. Gemeinsam mit Flora besuchte ich also eine Bank, und nachdem wir alles wissen wollten, gingen wir direkt zum Direktor – man sieht, es ist eine fiktionale Geschichte, auch wenn die Conclusio für alle Banken gelten wird.
„Hallo, Herr Direktor“, sagte Flora brav und reichte ihr die Hand.
„Hallo Flora, nimm doch bitte Platz. Darf ich Dir einen Kaffee anbieten?“, antwortete der Direktor liebenswürdig, und nachdem Flora auf ihren Platz geklettert war, sagte sie stirnrunzelnd, „Du kennst Dich wohl nicht gut mit Kindern aus. Ich bin fünf und trinke keinen Kaffee. Ich will einen Kakao.“
„Was kann ich für Dich tun?“, fragte der Direktor, nachdem er seine Sekretärin angewiesen hatte einen Kakao zuzubereiten, und wenn sie ihn selber kochen müsse, denn schließlich stünde die Zukunft der Bank auf dem Spiel, hier sitze die zukünftige Klientel.
„Was macht eine Bank?“, fragte Flora direkt.
„In einer Bank wird Geld eingesammelt“, antwortete der Direktor, „Viele, viele Leute bringen uns ihr Geld. Wir sammeln es und geben es anderen, die viel Geld brauchen.“
„Und das machen die Menschen freiwillig?“, fragte Flora ungläubig, „Also wenn ich Geld hätte, dann würde ich mir was kaufen und es nicht einfach wieder hergeben.“
„Aber die Menschen bekommen ihr Geld ja wieder zurück“, meinte der Direktor.
„Also geben sie es Dir, damit Du es wieder zurückgibst. Das ist aber ganz schön blöd. Da kann ich es gleich behalten“, erklärte Flora voll Überzeugung.
„Die Menschen geben uns ihr Geld, weil sie mehr zurückbekommen“, ergänzte der Direktor, „Und das was sie mehr bekommen nennt man Zinsen.“
„Und wie machst Du das, dass das Geld mehr wird? Kriegt es Kinder?“, fragte Flora ungläubig.
„Nein, aber die, denen wir das Geld geben, die geben und das Geld wieder zurück und auch mehr, als wir ihnen gegeben haben“, antwortete der Direktor.
„Darf ich das Geld einmal sehen?“, forderte Flora.
„Nein, weil wir kein Geld da haben“, erwiderte der Direktor, und das Entsetzen stand ihm auf die Stirn geschrieben.
„Du nimmst also Geld und versprichst es zurückzugeben, obwohl Du das Geld gar nicht hast, weil Du es anderen gibst, und meinst auch noch, Du kannst mehr zurückgeben, obwohl es keine Kinder bekommt? Und das glaubt Dir jemand?“, fasste Flora zusammen.
„Glaubst Du es denn nicht?“, fragte der Direktor, der von der Überzeugungskraft seiner Ausführungen überzeugt war.
„Ich bekomme ja nicht einmal den Kakao, den Du mir versprochen hast“, sprach die kleine Flora und ging.

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