2003 FastEndZeit (Teil 31):


Verstehen


Er aber sprach: Dich also dauerts der Staude, um die du dich nicht gemüht hast, die du nicht hast großgezogen, die als Kind einer Nacht ward und als Kind einer Nacht schwand! Mich aber sollte nicht dauern Ninives, der großen Stadt, darin es mehr als zwölf Myriaden von Menschen gibt, die zwischen Rechts und Links nicht wissen zu unterscheiden und Getiers die Menge?![1]

Vielleicht war es amüsiert, ein wenig, wie Du auf mich herabsahst, wie ich haderte vor Deinem Antlitz, mit einem Schicksal, das Du mir aufgeladen hattest. Vielleicht warst Du auch mir gegenüber milde gestimmt, wie den Myriaden von Menschen und dem Getier in Ninive gegenüber. Wusste ich doch, dass Du voller Güte und Langmut bist, doch ich sah mich leid Deiner Anweisung gefolgt zu sein. Doch mehr noch als diese Schmach, gabst Du und nahmst Du. Doch auch wenn ich saß, verloren und verlassen in meinem Elend in der Wüste, in der ich zu vertrocknen drohte, ohne das kleinste bisschen Schatten, selbst da bliebst Du bei mir. Trotzig wälzte ich mich im Sud meiner eigenen, kleinen, sich im Kreis drehenden Gedanken, und dennoch bliebst Du bei mir. Ich konnte es noch immer beobachten, das Treiben in Ninive, das Tun der Menschen, die sich nun wieder so verhielten, dass es dem Leben zuträglich war, doch ich selbst sah mich ausgeschlossen und vergrämt. Dennoch sandtest Du Deine Worte zu mir, umfasstest mich mit Zärtlichkeit und Annahmebereitschaft wie eine Mutter ihr Kind, doch ich musste es zulassen. Mit Geduld wartetest auf den Moment, da ich bereit war, den Moment, da ich in der Lage war Deine Worte aufzunehmen- Und da Du gewahrtest, dass ich so weit war, erklärtest Du mir, wie es sich verhielt, dass Du die Staude wachsen ließt, dass ich das Bedauern über deren Absterben erfahre. Um wie viel mehr hättest Du um eine Stadt, um Myriaden Menschen getrauert, die untergegangen wären, und Du hattest sie alle begleitet, jeden einzelnen in die Namhaftigkeit und die Lebendigkeit des Lebens berufen. Um wie viel mehr wäre Deine Trauer gerechtfertigt gewesen, um die, die Du vom ersten wachen Moment, bis ins hohe Alter begleitetest, umsäuseltest mit dem Windhauch Deines lebenbringenden Atems. Und mein Blick weitete sich in das Verstehen. Ja, vielleicht war es nicht mein Verdienst, aber Du hattest es mir zugetraut und anvertraut, dass ich die Menschen dazu bringen aufzusehen. Und wenn sie sich zuwandten, einander wieder, sehend, hörend, sprechend, verstehend, dann war es vielleicht nicht mein Erfolg, aber ich hatte mitgeholfen den Weg zu ebnen, der zu diesem Neuen, zu dieser Wiederbelebung führte. Ich war nicht einfach nur ein Werkzeug, sondern der, dem Du Dein Vertrauen und Dein Zutrauen geschenkt hattest. Es war ein Miteinander, in das Du mich holtest, in dem jeder seinen Part nach seinen Kräften erfüllte. Und es war gut, dass Ninive bestand und das Leben sich weiterhin darin fand und Heiterkeit und Lachen und Würde. Es war gut, dass das Getier in dieser Stadt weiterhin war und lebte, je nach seiner Art. Es war gut das Leben neu zu entdecken, und wenn mein Anteil daran noch so klein war, so war es doch ein Anteil, den Du mir gabst, und ich habe ihn erfüllt, und so sollte ich mich nun nach vorne wenden, weg von meiner Nabelschau, den Fuß zu setzen, den Weg zu gehen, von dem ich weiß, dass Du mich begleitest, sanft umwehst, behütet, geschützt und ummantelt.


[1] Jona 4,10f. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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