Nach menschlichem Ermessen
Es gibt so etwas, was wir als „menschliches Ermessen“
bezeichnen. „Nach menschlichem Ermessen dürfte so etwas nicht passieren“, heißt
es da zum Beispiel. Dies beinhaltet zweierlei. Erstens, dass wir von unserem
menschlichen, anthropozentrischem Blickwinkel ausgehen. Natürlich tun wir das
immer, weil wir keinen anderen haben, aber hier wird es benannt und
eingestanden. Zweitens wird darin bekundet, dass diese Wahrnehmung und diese
Art der Ab- und Einschätzung offensichtlich begrenzt ist. Dürfte es nicht passieren und es passiert dennoch, so gibt es
keine Parallelen und war nicht vorhersehbar. Wir wundern uns darüber, fügen es
zu unseren Erfahrungen hinzu und machen weiter. Wieder haben wir ein
menschliches Ermessen, das auf weitere Fälle anwendbar ist, bis wir wieder
eines Besseren belehrt werden, und immer so weiter. So ist es legitim
anzunehmen, nach menschlichem Ermessen, dass wir noch sieben Jahrzehnte leben,
wenn wir zehn Geburtstagskerzen auf der Torte ausblasen. Wenn wir es noch
behaupten, wenn es drei Mal zehn Kerzen sind, dann wird dies wohl mit einem
Kopfschütteln quittiert. Das ist nach menschlichem Ermessen eher abwegig. Gute
Dienst zur Auffrischung des menschlichen Ermessens leistet uns eine
wissenschaftliche Disziplin, die sich Statistik nennt und sich der Aufgabe
verschrieben hat all das, was vage und ohne jegliche Grundlage an Beweisen in
das menschliche Bemessen eingegangen ist, zu katalogisieren, zu nummerieren, zu
klassifizieren, um daraus die hübschen Tabellen zu basteln, aus denen klar und
deutlich ersichtlich wird welche Spannbreite das menschliche Ermessen umfassen
sollte, weil es sich in einer Vielzahl der Fälle bewahrheitet wird. Ausreißer
fallen durch den Rost und in die Kategorie „Unerwartetes“. Doch diese
Klassifizierung macht nicht halt bei Dingen und Ereignissen, sondern hat sich
auch des Menschen selbst bemächtigt. Alterspyramiden sagen uns wie lange wir im
Durchschnitt zu leben haben, spezifiziert allenfalls nach Geschlecht oder
sozialer Stellung oder schlechten wie guten Gewohnheiten. Die höchste
Lebenserwartung müsste demnach eine reiche, in einem Land der ersten Welt
lebende, verheiratete Frau mit Kindern haben. Da liegt es im Bereich des
menschlichen Ermessens, dass sie das 85. Lebensjahr ohne gröbere Probleme
erreicht. Wird man zufällig als Mädchen in Indien gezeugt, ist es nach
menschlichen Ermessen durchaus sinnvoll anzunehmen, dass man nicht einmal den
Uterus lebend verlassen darf. So werden Menschen in Statistiken gezwängt,
Fakten zusammengetragen, die dann irgendwo brach und träge herumliegen, und die
Tendenz zeigen sich zu verselbständigen, indem wir allzu schnell bereit sind
das was als Faktum festgestellt wurde, als unabänderlich zu sehen. Es nimmt die
Ausmaße eines Naturgesetzes an. Man kann nichts dagegen machen. Nach
menschlichem Ermessen kann daran nichts geändert werden. Das weibliche Föten
abgetrieben werden, daran lässt sich nichts ändern. Das Mädchen auf der ganzen
Welt bestialisch verstümmelt werden, daran lässt sich nichts ändern. Dass
reiche Menschen in der Ersten Welt Zugang zu erstklassiger Bildung,
gesundheitlicher Versorgung und all den anderen Einrichtungen haben, die
anderen verwehrt werden, das ist eben so. Fast schon neigen wir dazu zu sagen,
dass das immer schon so war und immer so sein wird. Der Mensch ändert sich
nicht. So wäre es wohl auch meine Aufgabe danach zu streben reich, schön und
beliebt zu sein, während ich auf der Karriereleiter ganz nach oben steige. Nach
menschlichem Ermessen sind das die Ziele, die ich haben sollte. Es gehört dazu,
dass ich mich durch Nichtigkeiten von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens
ablenken lasse, die Dinge, die zählen, weil sie glücklich zu machen vermögen.
Wie Deine Hand in meiner. Wie Dein Lächeln. Wie Dein Kuss. Das ist nicht mehr
Sache der Statistik. Und auch nicht des menschlichen Ermessens. Aber das ist
etwas für das Erwachen der Menschlichkeit und der Lebendigkeit. Und wenn es
durch den Rost des menschlichen Ermessens fällt, so gib gut acht, dass es nicht
im Feuer landet, sondern Du es auffängst und in Dir trägst. Und wenn Du es
tust, so ist es nach menschlichem Ermessen sehr wahrscheinlich, dass Du
glücklich wirst.
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