Es änderte alles
Niemals hatte ihn jemand anders erlebt als nett und
freundlich. In der Klasse war er anerkannt und geschätzt. Wahrscheinlich weil
er ein guter Fußballspieler war, und überhaupt ein guter Kamerad. Oft wurde er
eingeladen, auch außerhalb der Schule, privat sozusagen, zu Geburtstagen oder
einfach nur zum Spielen. Die Eltern der Einladenden schätzten ihn ebenso.
„Nein, was für ein höflicher Junge der Jakob doch ist“, pflegten sie zu sagen.
Der Jakob, der war beliebt. Nicht einer der Beliebtesten, aber er schwamm so
mit und fiel nicht weiters auf. Er war wie alle anderen, und das führte dazu,
dass er ein gutes Leben hatte. Das genügt. Sein wie alle anderen. Es wusste
natürlich jeder, dass er nicht den Religionsunterricht besuchte. Klar. Aber das
taten andere auch nicht. Vielleicht war er ja evangelisch, oder wollte einfach
nur zwei Stunden weniger Unterricht haben. Die meisten, die sich abmeldeten,
taten es, weil sie an zwei Tagen in der Woche früher nach Hause gehen konnten.
Es fiel auch auf, dass er beim Essen eigentümlich war, aber das traf auch auf
mehrere zu. Da gab es Vegetarier oder Veganer oder solche mit
Laktoseintoleranz. Die aßen auch anders. Und natürlich gab es auch die, die
einfach heikel war. Zu irgendeiner dieser Gruppen würde er wohl gehören. Es
interessierte niemanden wirklich. Doch eines Morgens kam Jakob in die Schule,
und alles war anders. Als erst waren es nur die Blicke. Merkwürdige,
durchbohrende Blicke. Als er sie grüßte, ganz normal, wie an jedem anderen
Morgen bisher, da wandten sie sich von ihm ab, ignorierten ihn. Jakob war
durcheinander. Was war nur geschehen, so von einem auf den anderen Tag. Selbst
sein Sitznachbar hatte sich weggesetzt. So war er ganz alleine in der letzten
Reihe. Ignoranz. Abwendung. In der ersten Stunde hatten sie an diesem Tag
Geschichte. Es ging um den Holocaust, um den Umgang der Nazis mit den Juden.
Unvermittelt drehte sich ein Junge um, ein großer, blonder Junge, der im
Klassenverband großes Ansehen genoss, sah Jakob direkt an und meinte, für den
da werden wir jetzt auch eine Zahnbürste kaufen. Jakob erwiderte den Blick, wortlos,
doch der Rest der Klasse verfiel in schallendes Gelächter. „Nein, er soll sich
seine Zahnbürste selber mitbringen, zum Straße putzen, der Jud“, erklärte ein
anderer. Endlich wusste Jakob was los war. Irgendwer in der Klasse musste
erfahren haben, dass er der mosaischen Glaubensgemeinschaft angehörte. „Mein
Vater hat mir erzählt“, mischte sich nun ein Mädchen ein, „dass die Juden uns
all unser Geld wegnehmen. Steinreich sind sie und schauen nur auf sich.“ „Und
sie morden kleine Kinder“, erklärte ein anderer. „Angefangen haben sie mit
Jesus“, hörte man einen Zwischenruf, „Und seit es sie gibt hat man keine Ruhe
vor ihnen.“ Solche und ähnliche Wortmeldungen schwirrten nun durcheinander,
doch Jakob hörte nicht mehr hin. Er wartete, dass sich der Geschichtslehrer
endlich einmischte, doch er ließ sich Zeit damit, doch als er es endlich tat,
da sagte er nur lapidar: „Ich freue mich über solch einen konstruktiven
Meinungsaustausch, aber wir müssen im Stoff weiterkommen.“ Jakob saß mit
offenem Mund da. Das konnte doch nicht wahr sein! War er denn plötzlich ein
anderer Mensch? Was hatte sich seit dem Vortag geändert? Doch vor allem, was
hatten Teenager mitten in Europa im 21. Jahrhundert für schlechte Erfahrungen
mit Juden gemacht, dass sie so hasserfüllt gegen sie waren? Er sollte es nicht
erfahren, denn niemand sprach mehr mit ihm und er wurde auch nicht mehr
eingeladen. Alles war vergessen. Das gute Benehmen und das nette Wesen, alles
wurde getilgt unter einer Rubik, mit der eigentlich niemand was anfangen
konnte, und die doch genügte, ihn abzuurteilen, für immer. Und dann war er
eines Tages nicht mehr da. Für viele war es eine Erleichterung. Die Klasse
wurde geputzt. Nichts mehr sollte daran erinnern, dass er je da war. Nur eine
einzige SMS bekam er. „Ich habe ja nichts gegen Dich, aber ich möchte mich
nicht mit der ganzen Klasse anlegen. Das verstehst Du doch sicher?“, stand
darin zu lesen. Aber Jakob verstand es nicht.
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