1806 Es änderte alles


Es änderte alles


Niemals hatte ihn jemand anders erlebt als nett und freundlich. In der Klasse war er anerkannt und geschätzt. Wahrscheinlich weil er ein guter Fußballspieler war, und überhaupt ein guter Kamerad. Oft wurde er eingeladen, auch außerhalb der Schule, privat sozusagen, zu Geburtstagen oder einfach nur zum Spielen. Die Eltern der Einladenden schätzten ihn ebenso. „Nein, was für ein höflicher Junge der Jakob doch ist“, pflegten sie zu sagen. Der Jakob, der war beliebt. Nicht einer der Beliebtesten, aber er schwamm so mit und fiel nicht weiters auf. Er war wie alle anderen, und das führte dazu, dass er ein gutes Leben hatte. Das genügt. Sein wie alle anderen. Es wusste natürlich jeder, dass er nicht den Religionsunterricht besuchte. Klar. Aber das taten andere auch nicht. Vielleicht war er ja evangelisch, oder wollte einfach nur zwei Stunden weniger Unterricht haben. Die meisten, die sich abmeldeten, taten es, weil sie an zwei Tagen in der Woche früher nach Hause gehen konnten. Es fiel auch auf, dass er beim Essen eigentümlich war, aber das traf auch auf mehrere zu. Da gab es Vegetarier oder Veganer oder solche mit Laktoseintoleranz. Die aßen auch anders. Und natürlich gab es auch die, die einfach heikel war. Zu irgendeiner dieser Gruppen würde er wohl gehören. Es interessierte niemanden wirklich. Doch eines Morgens kam Jakob in die Schule, und alles war anders. Als erst waren es nur die Blicke. Merkwürdige, durchbohrende Blicke. Als er sie grüßte, ganz normal, wie an jedem anderen Morgen bisher, da wandten sie sich von ihm ab, ignorierten ihn. Jakob war durcheinander. Was war nur geschehen, so von einem auf den anderen Tag. Selbst sein Sitznachbar hatte sich weggesetzt. So war er ganz alleine in der letzten Reihe. Ignoranz. Abwendung. In der ersten Stunde hatten sie an diesem Tag Geschichte. Es ging um den Holocaust, um den Umgang der Nazis mit den Juden. Unvermittelt drehte sich ein Junge um, ein großer, blonder Junge, der im Klassenverband großes Ansehen genoss, sah Jakob direkt an und meinte, für den da werden wir jetzt auch eine Zahnbürste kaufen. Jakob erwiderte den Blick, wortlos, doch der Rest der Klasse verfiel in schallendes Gelächter. „Nein, er soll sich seine Zahnbürste selber mitbringen, zum Straße putzen, der Jud“, erklärte ein anderer. Endlich wusste Jakob was los war. Irgendwer in der Klasse musste erfahren haben, dass er der mosaischen Glaubensgemeinschaft angehörte. „Mein Vater hat mir erzählt“, mischte sich nun ein Mädchen ein, „dass die Juden uns all unser Geld wegnehmen. Steinreich sind sie und schauen nur auf sich.“ „Und sie morden kleine Kinder“, erklärte ein anderer. „Angefangen haben sie mit Jesus“, hörte man einen Zwischenruf, „Und seit es sie gibt hat man keine Ruhe vor ihnen.“ Solche und ähnliche Wortmeldungen schwirrten nun durcheinander, doch Jakob hörte nicht mehr hin. Er wartete, dass sich der Geschichtslehrer endlich einmischte, doch er ließ sich Zeit damit, doch als er es endlich tat, da sagte er nur lapidar: „Ich freue mich über solch einen konstruktiven Meinungsaustausch, aber wir müssen im Stoff weiterkommen.“ Jakob saß mit offenem Mund da. Das konnte doch nicht wahr sein! War er denn plötzlich ein anderer Mensch? Was hatte sich seit dem Vortag geändert? Doch vor allem, was hatten Teenager mitten in Europa im 21. Jahrhundert für schlechte Erfahrungen mit Juden gemacht, dass sie so hasserfüllt gegen sie waren? Er sollte es nicht erfahren, denn niemand sprach mehr mit ihm und er wurde auch nicht mehr eingeladen. Alles war vergessen. Das gute Benehmen und das nette Wesen, alles wurde getilgt unter einer Rubik, mit der eigentlich niemand was anfangen konnte, und die doch genügte, ihn abzuurteilen, für immer. Und dann war er eines Tages nicht mehr da. Für viele war es eine Erleichterung. Die Klasse wurde geputzt. Nichts mehr sollte daran erinnern, dass er je da war. Nur eine einzige SMS bekam er. „Ich habe ja nichts gegen Dich, aber ich möchte mich nicht mit der ganzen Klasse anlegen. Das verstehst Du doch sicher?“, stand darin zu lesen. Aber Jakob verstand es nicht.

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