Ein klein wenig anders
Klein machen. Nur nicht auffallen. Verstecken. Hinter dem,
der vor ihr saß. Vielleicht gelang es ihr, dass der Lehrer sie übersah.
Meistens gelang es ihr. Ab und an geschah es doch. Sie wusste nicht warum. „Sie
soll sich öfter melden im Unterricht“, sagten die Lehrer unisono zu ihrer
Mutter, wenn sie zum Elternsprechtag ging, „Sie zeigt ja schriftlich, dass sie
es kann, aber ich habe keine Mitarbeit von ihr. So geht das nicht!“ „Aber sie
hat Angst“, erklärte dann die Mutter, gebetsmühlenartig, immer wieder, „Sie hat
Angst von ihren Mitschülern ausgelacht zu werden, Angst, etwas Falsches zu
sagen.“ „So ein Unsinn“, kam es dann zurück, „In der Klasse wird niemand
ausgelacht, und wenn sie einen Fehler macht, dann macht das nichts.“ Immer
wieder das Gleiche. Sie hörte auf zu Elternsprechtagen zu gehen. Die Lehrer
meinten dann, dass sich die Eltern nicht mehr kümmerten, aber wozu reden, wenn
man doch keine Antwort bekam, die etwas nutzte. Denn die Mutter wusste sehr
wohl, dass ihre Tochter ausgelacht wurde, und ganz gleich was die Lehrer
sagten, wenn man was Falsches sagte oder etwas, was nicht in ihr Schema passte,
dann wurde sie im besten Fall mit einem Minus bedacht, das selbstverständlich
in die Note einfloss, im schlechten Fall mit einer Rüge des Lehrers. Manche
bedachten sie mit Zynismus. So ging die Mutter nicht mehr auf Elternsprechtage,
und die Tochter sagte nichts. Doch sie litten, beide, still. Die Mutter, weil
sie ihrer Tochter helfen wollte, aber keine Möglichkeit hatte. Die Tochter,
weil ihre Mitschüler sie drangsalierten, und die Lehrer schweigend zusahen. Man
hätte meinen können, dass die Lehrer nichts wussten. Sie wussten alle Bescheid.
Immer wissen alle Bescheid, doch niemand tut etwas, denn das Mädchen, das sich
in der Klasse am liebsten unsichtbar gemacht hätte, sie war ein wenig anders.
Nicht auffallend, nur ein ganz klein wenig. Doch das genügte, dass sie die
anderen als willkommenes Opfer behandelten. Nicht alle waren schlecht. Das war
es nicht. Manche taten nicht mit. Aber auch nichts dagegen. Die stumme
Mehrheit, die dennoch froh war, denn so lange sich die Meinungsmacher auf sie
als Opfer einschossen, kamen sie nicht auf die Idee sich ein anderes zu suchen.
Sicherlich, irgendwann würde auch das langweilig werden, doch noch war es nicht
notwendig. Dann waren die, die mitmachten, aber auch nur um von sich selbst
abzulenken, und dann waren ein, zwei, die immer wieder das Feuer schürten und
beharrlich und agressiv auf sie losgingen, immer, wenn sie den Mund aufmachte.
Ab und zu war es notwendig. Dann war der Moment, in dem sich ihr Anders-sein
zeigte, denn sie stotterte. Sie konnte auch flüssig sprechen. Wenn sie ihrer
Mutter vorlas z.B., dann gelang es tadellos, zu Hause, im geschützten Raum, wo
es auch nichts ausgemacht hätte, wenn sie stotterte. Doch wenn sie nervös war
oder sich unter Druck gesetzt fühlte, dann passierte es, dann wollten die Worte
sich nicht mehr fügen. In der Schule war sie nervös und fühlte sich unter Druck
gesetzt. Deshalb wurde es immer schlimmer. Die Angriffe immer heftiger. Immer
schwerer wurde es für sie sich morgens dazu zu überwinden in die Schule zu
gehen. Der Schmerz, den sie in sich trug, wurde immer größer. Niemand fiel es
auf. Auch nicht, als sie plötzlich nur mehr Oberteile mit langen Ärmeln trug,
selbst bei der größten Hitze. Es fiel nicht auf, dass sie sich noch mehr
zurückzog. Erst als die Turnlehrerin sie zwang ihre Arme zu zeigen, da wusste
es plötzlich die ganze Klasse, denn ihr linker Arm war übersät mit unzähligen
Schnittwunden, teil frischen, teil vernarbten. Niemand konnte sich das
erklären, konnte sagen was das Mädchen dazu getrieben hatte sich selbst zu
verlassen. Fassungslos standen sie davor und gaben sich den Anschein, als käme
alles völlig unerwartet. „Ist halt ein verwirrtes, pubertierendes Mädchen“,
fasste ein Lehrer zusammen, achselzuckend, um sich dann wieder anderem
zuzuwenden. Es gab schließlich Stellen, die ihr halfen. Kein Handlungsbedarf
von ihrer Seite. Denn das konnte doch nicht sein, dass es einen anderen Grund
hatte. Sie war ja nur ein klein wenig anders. Was spielte das schon für eine
Rolle?
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