1606 Ein klein wenig anders


Ein klein wenig anders


Klein machen. Nur nicht auffallen. Verstecken. Hinter dem, der vor ihr saß. Vielleicht gelang es ihr, dass der Lehrer sie übersah. Meistens gelang es ihr. Ab und an geschah es doch. Sie wusste nicht warum. „Sie soll sich öfter melden im Unterricht“, sagten die Lehrer unisono zu ihrer Mutter, wenn sie zum Elternsprechtag ging, „Sie zeigt ja schriftlich, dass sie es kann, aber ich habe keine Mitarbeit von ihr. So geht das nicht!“ „Aber sie hat Angst“, erklärte dann die Mutter, gebetsmühlenartig, immer wieder, „Sie hat Angst von ihren Mitschülern ausgelacht zu werden, Angst, etwas Falsches zu sagen.“ „So ein Unsinn“, kam es dann zurück, „In der Klasse wird niemand ausgelacht, und wenn sie einen Fehler macht, dann macht das nichts.“ Immer wieder das Gleiche. Sie hörte auf zu Elternsprechtagen zu gehen. Die Lehrer meinten dann, dass sich die Eltern nicht mehr kümmerten, aber wozu reden, wenn man doch keine Antwort bekam, die etwas nutzte. Denn die Mutter wusste sehr wohl, dass ihre Tochter ausgelacht wurde, und ganz gleich was die Lehrer sagten, wenn man was Falsches sagte oder etwas, was nicht in ihr Schema passte, dann wurde sie im besten Fall mit einem Minus bedacht, das selbstverständlich in die Note einfloss, im schlechten Fall mit einer Rüge des Lehrers. Manche bedachten sie mit Zynismus. So ging die Mutter nicht mehr auf Elternsprechtage, und die Tochter sagte nichts. Doch sie litten, beide, still. Die Mutter, weil sie ihrer Tochter helfen wollte, aber keine Möglichkeit hatte. Die Tochter, weil ihre Mitschüler sie drangsalierten, und die Lehrer schweigend zusahen. Man hätte meinen können, dass die Lehrer nichts wussten. Sie wussten alle Bescheid. Immer wissen alle Bescheid, doch niemand tut etwas, denn das Mädchen, das sich in der Klasse am liebsten unsichtbar gemacht hätte, sie war ein wenig anders. Nicht auffallend, nur ein ganz klein wenig. Doch das genügte, dass sie die anderen als willkommenes Opfer behandelten. Nicht alle waren schlecht. Das war es nicht. Manche taten nicht mit. Aber auch nichts dagegen. Die stumme Mehrheit, die dennoch froh war, denn so lange sich die Meinungsmacher auf sie als Opfer einschossen, kamen sie nicht auf die Idee sich ein anderes zu suchen. Sicherlich, irgendwann würde auch das langweilig werden, doch noch war es nicht notwendig. Dann waren die, die mitmachten, aber auch nur um von sich selbst abzulenken, und dann waren ein, zwei, die immer wieder das Feuer schürten und beharrlich und agressiv auf sie losgingen, immer, wenn sie den Mund aufmachte. Ab und zu war es notwendig. Dann war der Moment, in dem sich ihr Anders-sein zeigte, denn sie stotterte. Sie konnte auch flüssig sprechen. Wenn sie ihrer Mutter vorlas z.B., dann gelang es tadellos, zu Hause, im geschützten Raum, wo es auch nichts ausgemacht hätte, wenn sie stotterte. Doch wenn sie nervös war oder sich unter Druck gesetzt fühlte, dann passierte es, dann wollten die Worte sich nicht mehr fügen. In der Schule war sie nervös und fühlte sich unter Druck gesetzt. Deshalb wurde es immer schlimmer. Die Angriffe immer heftiger. Immer schwerer wurde es für sie sich morgens dazu zu überwinden in die Schule zu gehen. Der Schmerz, den sie in sich trug, wurde immer größer. Niemand fiel es auf. Auch nicht, als sie plötzlich nur mehr Oberteile mit langen Ärmeln trug, selbst bei der größten Hitze. Es fiel nicht auf, dass sie sich noch mehr zurückzog. Erst als die Turnlehrerin sie zwang ihre Arme zu zeigen, da wusste es plötzlich die ganze Klasse, denn ihr linker Arm war übersät mit unzähligen Schnittwunden, teil frischen, teil vernarbten. Niemand konnte sich das erklären, konnte sagen was das Mädchen dazu getrieben hatte sich selbst zu verlassen. Fassungslos standen sie davor und gaben sich den Anschein, als käme alles völlig unerwartet. „Ist halt ein verwirrtes, pubertierendes Mädchen“, fasste ein Lehrer zusammen, achselzuckend, um sich dann wieder anderem zuzuwenden. Es gab schließlich Stellen, die ihr halfen. Kein Handlungsbedarf von ihrer Seite. Denn das konnte doch nicht sein, dass es einen anderen Grund hatte. Sie war ja nur ein klein wenig anders. Was spielte das schon für eine Rolle?

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