Eine Welt voller magischer Momente
Es gab eine Zeit, da hatte ich es immer eilig. „Carpe diem –
nutze den Tag“, das war mein Motto, tagtäglich, Stunde um Stunde. Zunächst ließ
ich noch die Wochenenden aus und die Feiertage, doch dann dachte ich darüber
nach und wusste nicht warum eigentlich. Auch diese waren angetan produktiv zu
sein. Was sollte mich abhalten? Alles verlorene Zeit, wenn sie nicht produktiv
genutzt wurde. Aber da ging immer noch ein wenig mehr. Ein bisschen früher
aufstehen, ein bisschen später schlafen gehen. Unproduktive Dinge, die
notwendig waren auf ein Minimum reduzieren, Essen, Körperpflege, Entspannung,
Vergnügen. Wer braucht denn das? Und nachdem nicht mehr mehr herauszuholen war
aus der verfügbaren Zeit, da kam mir der Gedanke, diese Zeit einfach noch
effektiver zu nutzen. Alles musste noch schneller gehen, wortwörtlich, auch das
Gehen. Und aus dem Gehen wurde ein Laufen. Eiltempo. Weder links noch rechts
schauen. Immer schneller. Fokussiert auf das Wesentliche. Das zu Erledigende.
Sonst nichts. Alles war Zu-Erledigendes. Alles musste geschafft werden. Keine
Zeit zu Lachen. Keine Zeit Innezuhalten. Und der Berg den ich abtrug schien
nicht kleiner, sondern immer größer zu werden, von Tag zu Tag. Der Gipfel lag
im Nebel, aber der interessierte mich schon lange nicht mehr, denn ich sah
gerade das Stück, das vor mir lag. Keinen Zentimeter weiter. Eingeschränkte
Sicht. Die Scheuklappen immer enger schnüren. Es war wie ein Wahn. Zeit sparen,
um sie noch mehr zu füllen. Taktung. Fließbandtätigkeit ohne Fließband. Letztes
Mal habe ich vier Minuten für etwas gebraucht. Das müsste doch auch in drei
Minuten möglich sein. Und das war das nächste Ziel. Ich fühlte mich immer
ausgelaugter und elender. Von Spaß war keine Rede mehr. Nur mehr Erledigen,
Tätig-sein. Das Leben ist nun mal kein Kindergeburtstag. Es ist harte Arbeit.
Tag für Tag. Und wenn ich einmal gezwungen war einfach dazusitzen und nichts zu
tun, dann war ich im Geiste beim Tätig-sein. Der Genuss ging verloren und auch
das Lachen. Alles Verschwendung. Schlafen kannst Du auch noch, wenn Du tot
bist. Sehr reichlich sogar. Und wenn es wirklich nicht mehr ging, dann schmiss
ich eben eine Tablette ein. Nichts Ernstes. Bloß so kleine Dinger aus der
Apotheke. Kann ja nicht schaden, wenn sie noch nicht mal rezeptpflichtig sind.
Und dann ging es wieder eine Weile. Doch dann kam der Tag, da nutzten auch die
Tabletten nicht mehr. So sehr ich auch wollte, mein Körper ließ mich nicht
mehr. Zu schwach mich aus dem Bett zu bewegen. Vier Wochen Krankenhaus.
Gezwungene Ruhe. Schlafen und müde sein. Zwei Operationen. Kein Appetit. Nur
Angst. Was sollte werden. Sollte das nun das Ende sein? Und wenn es das war,
war es dann zumindest so, dass ich sagen hätte können, dass es ein gelebtes
Leben war? Alles versank in die Bedeutungslosigkeit. Wenn ich es nicht getan
hätte, dann hätte es weder den Lauf der Welt verändert noch sonst irgendwelche
dramatischen Auswirkungen gehabt. Aber ich dachte plötzlich daran wie oft Du
versucht hattest mich zu erreichen. Du hattest Dich zu mir gesetzt, einfach so
und es war so selbstverständlich, mehr als das, es war mir lästig. Und ich habe
es nicht zugelassen, dass ich die Freude erlebe, dass Du da bist. Nichts
weiter. Du wolltest mich mitnehmen in Deine Gedanken, doch ich konnte nicht
mitgehen. Ich hatte zu tun. Oder in die Sterne schauen. Oder die Blume im
Garten, die frisch erblüht war oder das Lachen der Kinder. Alles war verstummt.
Ich sah die Welt neu, aus dem Fenster meines Krankenbettes, da war der Himmel
in seinem Farbenspiel, der Herbst in all seiner Pracht. Ich dachte an Deine
Augen und an Deine Hand, an unser Miteinander, das ich nicht mehr wahrnahm. Ich
sah den Trost, den ich in Deinen Armen fand und das Lachen, das wir uns
schenkten, wenn wir uns einfach fallen ließen. Plötzlich war sie wieder da,
diese Welt, die voll war mit magischen Momenten. Und ich war dankbar, dass ich
gezwungen war innezuhalten. Da war ein Grund um hier zu sein, noch nicht zu
sterben. Ich wollte leben, um zu leben. Und die Welt zu entdecken, jeden Tag
aufs Neue, mit Dir an meiner Seite. Und wenn ich heute meine Hand um Deine
schließe, dann bin ich da und spüre, dass es gut tut und mir Kraft schenkt.
Vielleicht bin ich weniger produktiv – aber auf jeden Fall lebendiger.
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