In Begegnung treten
Maria war nun den fünften Tag am Hof ihrer Großtante.
Vielleicht konnte man den ersten nicht so ganz rechnen, da sie erst am Abend
angekommen war. Doch sie hatte durchgehalten, länger als sie es sich je hätte
vorstellen können, hatte ausgehalten, die Tage in Gleichmut und ruhiger
Geschäftigkeit oder einfach der Stille zu verbringen, hatte ausgehalten ganz
ohne Handy und Laptop und virtueller Verbindung in die Außenwelt, hatte
ausgehalten nicht einkaufen zu gehen und anderen Menschen zu begegnen. Doch was
war es denn tatsächlich um die Begegnung der Menschen, dort in ihrem normalen
Leben?
In der Früh weckte sie ihr Handy. Immer zu früh, wie sie nun
dachte. Es gab kaum einen Tag, an dem sie das Gefühl hatte wirklich ausgeruht
zu sein. Es war das Zuviel von Allem, das sie nie zur Ruhe kommen ließ, und
gleichzeitig immer zu wenig, weil sie überzeugt war, dort draußen, dass es
immer mehr sein musste. Die Wirtschaft anzukurbeln. Immer mehr. Das BIP zu
erhöhen. Immer mehr. Den eigenen Lebensstandard in die Höhe zu schrauben. Auch
wenn es nicht wahr war, denn wahr ist, was uns bereichert, aber es war nur ein
Anhäufen von Dingen, zu denen sie keinen Bezug hatte.
Hier wurde sie vom Hahn geweckt, wenn die Nacht ihr Ende
fand. Und sie war erfrischt und ausgeruht. Es fühlte sich gut an. Aufstehen.
Den Kamin einheizen und die sich rasch ausbreitende Wärme zu genießen. Das
Frühstück zu bereiten. Eine einfache Mahlzeit. Kaffee oder Tee, ein Stück Brot,
ein Brei, und so nahrhaft. Nahrung, die auch fürs Herz ist und nicht nur den
physischen Hunger stillt, denn sie frühstückte mit ihrer Großtante gemeinsam.
Zu Hause, dort, wo sie wohnte, da nahm sie sich meist gar
nicht die Zeit zu frühstücken. Immer stand sie unter Druck. Hastig wurde es
verschlungen, wenn überhaupt, zwischen Tür und Angel. Coffee to go. Alles
unterwegs. Denn die Zeit, die man braucht um von dem einen Ort zum anderen zu
gelangen, auch die muss genutzt werden, vor allem für so Nebensächlichkeiten
wie die Nahrungsaufnahme. Man merkt es kaum.
„Habe ich jetzt schon gegessen oder nicht?“, fragte sie sich
des Öfteren, weil sie es nicht wahrgenommen hatte. Gedankenlos in irgendetwas
hineinbeißen und hinunterschlingen, immer mit einem Auge auf dem
voranschreitenden Zeiger. Hier saß sie beim Essen und tat nichts als zu essen.
Vielleicht, dass sie miteinander sprachen. Vielleicht auch nicht. Es tat nichts
zur Sache, denn die Präsenz war spürbar. Einfach da sein, denn die Begegnung
bedarf keiner Worte. Ganz anders als sie es sonst lebte. Denn wenn sie mit
ihrem Kaffee in der Hand zwischen den Menschen durchhastete, dann war es wie
Slalomfahren, wobei all die Menschen bloße Hindernisse waren, die es rasch und
sicher zu umkurven galt, doch anders als beim Slalom, wo an den Stangen so nahe
wie möglich vorbeigefahren wurde, wurde hier versucht Berührung so gut als
möglich zu vermeiden.
„Verzeihung“, hieß es da, wenn man jemanden zu nahe kam,
ungewollt. Es gab keine Berührung, weder äußerlich noch innerlich, und wenn,
dann war sie unpassend, sowohl äußerlich als auch innerlich. Und dann sah sie
ihn, den Bettler, der jeden Morgen an der selben Stelle saß, an dem Weg, den
sie gehen musste um ihr Ziel zu erreichen. Sie huschte immer an ihm vorbei, in
einem weiten Bogen, wenn es ging. Ab und an hatte sie schon überlegt die
Straßenseite zu wechseln, aber das hätte sie viel zu viel Zeit gekostet, und
die Straße war so breit. Weit weggehen, so weit wie unter den gegebenen
Umständen möglich war, den Kopf einziehen und wegsehen. Jedes Mal fühlte sie
sich peinlich berührt, als erwarte sie, dass irgendwann jemand stehenbliebe,
sie ansehe, dann die Hand hob und mit dem Finger auf sie zeigte, dass es alle
wüssten, sie hatte sich angesteckt, mit Elend besudelt.
„Setz Dich zu ihm. Geh hin wo Du herkommst“, und alle um sie
herum brachen in schallendes Gelächter aus, „Niemals wirst Du das hinter Dir
lassen. Niemals kannst Du entkommen.“ Und deshalb musste sie sich noch mehr
anstrengen, noch viel, viel mehr.
Der Bettler war doch selber schuld. Jeder hat die
Möglichkeit das Elend hinter sich zu lassen und sich ein Leben zu erarbeiten.
Jeder. Doch jetzt sah sie ihn in ihren Gedanken viel deutlicher als sie sich
beim Vorbeigehen je zu sehen zugestanden hätte.
Er saß da, wenn es kalt war, in einem zerschlissenen Mantel.
Eine speckige Haube auf dem Kopf und die Bartstoppeln standen ihm wild vom
Gesicht ab. Alles an ihm war alt und abgetragen, doch seine Augen wirkten jung
und lebendig, doch da war noch mehr. Was war es nur? Es war vage in ihren
Gedanken, als wollte sie das Sehen nicht zulassen, und schon gar nicht das
Begreifen. Doch hier, in der Ruhe, da wollte sie es. Und so wurde das Bild in
ihren Gedanken klarer. Es war etwas Lebendiges, etwas Warmes, das neben ihm
lag, den Kopf auf seinen Beinen gelagert. Es war ein Hund. So allein der
Bettler auch war, so verlassen und verwahrlost, so war er doch nicht einsam.
Sie begann zu erahnen warum sie das Sehen nicht zulassen wollte, weil sie ihn
beneidete. Sie, die ihr Leben im Griff hatte und im Begriff war alles zu
erreichen, was sie erreichen wollte, sie neidete diesem heruntergekommenen,
ausgestoßenem Individuum etwas, nämlich dieses Wesen, das zu ihm stand, bei ihm
blieb, ganz gleich was passierte. Sie wollte das Sehen nicht zulassen, weil sie
inmitten all ihres Erfolges in tiefer Einsamkeit befangen war. Flucht nach
vorne. Weg von sich, immer weiter weg, von sich und lebendigen Begegnungen.
Genau dorthin war sie geraten, in eine lebendige Begegnung, in die man genommen
wird, ganz gleich was man hat oder was für eine Stellung man bekleidet, in
aller Ursprünglichkeit und Verlorenheit, aufgefangen und gehalten.
Was war das Bisher wert? Und wenn sie dann in den Stall
gingen um die Tiere zu versorgen, so war es eine weitere Unmittelbarkeit, die
sie lebte. Bedächtig fraßen die Schafe das Heu und warteten geduldig darauf
hinausgelassen zu werden in den Schnee, in den Tag. Wild liefen die Hühner
durcheinander. Der Schneesturm war nicht gut, doch als er vorbei war, da
konnten sie hinaus und Maria erlebte ihre Freude daran, zu scharren,
herumzulaufen, einfach zu leben, den Tag nicht achtend, der doch nichts weiter war
als eine Aneinanderreihung von Moment an Moment. Viel mehr wäre nicht
notwendig. Sie strich verträumt den Pferden über den Hals, und den Eseln. Alle
zog es hinaus in die Freiheit. In aller Unbeschwertheit. Und sie sah ihnen zu.
Was war ihr Leben wert gewesen bis jetzt, ohne die geringste
Lebendigkeit, mit dem Korsett, das sie jeden Tag trug, so dass es mit ihr zu verwachsen
schien, ein Korsett aus Getriebenheit und Disziplinierung. Disziplin im Umgang
mit der Zeit. Disziplin im Umgang mit den Menschen. Disziplin im Umgang mit
ihrem Körper. Was war ihr Leben wert gewesen bis jetzt?
Und das Erkennen schmerzte. Ablenkung. Sie wollte es nicht.
Ablenkung. Sie wollte ihr Handy und ihren Laptop, ablenken durch Anforderungen,
die andere an sie herantrugen. Trügerische Notwendigkeit. Es ist sicher ganz
furchtbar wichtig. Sie wollte heraus aus diesen Gedanken, hinein in das Leben.
„Wann kann ich meine Sachen wohl haben?“, fragte sie
unvermittelt.
„Sobald es möglich sein wird Dein Auto zu finden“,
antwortete ihre Großtante lapidar, während sie Maria prüfend musterte, denn sie
spürte, dass ihre Nichte fortgegangen war. Eine kleine Flucht in das Bisher.
Doch Magdalena ließ Maria gewähren. Sie würde zurückkehren, wenn sie es wollte,
doch sie musste es selber wollen.
„Sieh nur“, sagte Magdalena unvermittelt, „Dieses Schaf, das
am eifrigsten durch den Schnee springt, das habe ich per Hand aufgezogen, denn
die Mutter nahm es nicht an. Viele Tage und Nächte bangte ich um sein Leben,
denn die Verzweiflung der Verlassenheit kämpfte gegen den Willen zu überleben,
und dann siegte doch das Leben. Ich war so glücklich und dankbar, als ich sehen
konnte, wie es ganz allein hinausstackste, zwar noch unsicher, aber bereit sich
auf das Leben einzulassen. Es hatte wieder das Vertrauen und wurde ein Teil der
Herde.“
Und während Maria zu dem besagten Schaf hinsah, spürte sie,
dass sie wohl auch verstoßen war und sich nach dem Vertrauen sehnte, nach dem
Vertrauen sich vom Leben berühren zu lassen und eine berührende Begegnung
zuzulassen. Sie wollte es so sehr, dass es ihr Angst machte.
„Ich brauche meine Sachen“, wiederholte sie lapidar, und
eine weitere Reihe erschien auf ihrem Webbild des Lebens, und womöglich zeigte
es einen Stolperstein auf dem Weg, der sich gerade erst neu vor ihr auftat, ein
Stolperstein, über den sie fallen würde oder den sie zu den anderen legen
konnte, um eine Brücke zu bauen zum Bisher und zu einer Versöhnung mit sich
selbst. Es lag in ihrer Hand, auch wenn es noch nicht völlig sichtbar war. Es
lag in ihrer Hand, anzunehmen und loszulassen, Annahme und Loslösung in
Versöhnung zu verbinden. Und es war der fünfte Tag des Advent.
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