Die Selbstverständlichkeit des Lebens
„Guten Morgen, Jonathan“, dachte Maria lächelnd, als sie der
Haushahn an diesem Morgen wieder weckte. Diese Art geweckt zu werden erschien
ihr bereits so vertraut, als wäre es niemals anders gewesen. Rasch schlüpfte
sie aus dem Bett und zog sich an, denn sie wusste, dass das die einzige Chance
war ihrer Großtante bei den Frühstücksvorbereitungen helfen zu können. So lief
sie in die Wohnstube, die noch kalt war von der Nacht. So öffnete sie das
Türchen im Kamin und fand immer noch einen Rest Glut, auf die sie zwei drei
Holzscheite legte, nachdem sie sie kräftig aufgemischt hatte. Dann verharrte
sie still um zuzusehen wie die Flammen um das Holz zu züngeln begannen, zuerst
klein und zaghaft, aber dann immer heller und freudiger. Dann erst schloss sie
das Türchen wieder um ihrer Großtante in der Küche zu helfen. Gemeinsam saßen
sie dann, mit süßem Brei und dampfenden Kaffee am großen Tisch in der
Wohnstube, während der Winter vor den Fenstern die Natur erstarren ließ. „Wie
hat es Dich hierher verschlagen?“, fragte Maria unvermittelt, „Ich meine, Du
warst doch eine Adelige. Da ist es wahrscheinlich nicht das Alltäglichste, dass
man einen Bauern heiratet.“ „Das stimmt, und Du kannst Dir wahrscheinlich
vorstellen wie unglücklich meine Mutter darüber war, die mich doch so gerne an
irgendeinen Fürsten oder Grafen, oder was weiß ich, verheiratet hätte. Sie war
eine herzensgute Frau, trotz allem, doch sie war auch eingeschränkt in ihrem
Blickfeld. Es gab darin ganz klare soziale Schranken, die man nicht zu
überschreiten hatte. So wenig wie ein einfacher Mensch unseren Kreisen
angehören konnte, so wenig war es umgekehrt möglich. Es war für sie wie ein
Naturgesetz, unumgänglich. Doch ich hatte immer schon meine eigenen
Vorstellungen vom Leben gehabt. So zog ich die Natur und die Beschäftigungen
darin jenen vor, die wohl meiner Stellung angemessener gewesen wären, wie
Sticken und Französisch lernen und gekünstelt kichern und mich in Schale werfen
und die Domestiken herunterputzen. Meine Mutter war jedes Mal einer Ohnmacht
nahe, wenn ich, von oben bis unten verdreckt von einem meiner legendären
Ausritte heimkehrte. ‚Du gebärdest Dich wie ein Mann. Willst Du das denn?’,
pflegte sie mich zu fragen, aber sie hatte keine Chance, stur wie ich schon
immer war. Doch dann kam die Wandlung, nicht in dem Sinne, wie es sich meine
Mutter gewünscht hätte, aber doch vom wilden Erobern zum sanften Staunen. Es
war, als wir einen neuen Gärtner aufnahmen. Es war ein junger, kräftiger
Bursche mit einem breiten Dialekt. Stundenlang befasste er sich mit größter
Sorgfalt mit seinem Pflanzen. Natürlich tut das jeder Gärtner, aber er hatte
eine besondere Gabe genau zu wissen was seine Pflanzen brauchten und auch die
Geduld sie in ihrem eigenen Rhythmus wachsen zu lassen. So beobachtete ich,
dass meine Mutter eines Tages die Köchen schickte um sich frische Erdbeeren
geben zu lassen. Mit aller gebotenen Höflichkeit lehnte er dieses Ansinnen ab,
denn die Erdbeeren seien noch nicht so weit gepflückt zu werden. Selbst die
Erdbeeren schienen sich dem Willen meiner Mutter zu widersetzen, aber als die
Köchin trotzdem welche holte, da musste meine Mutter feststellen, dass der
Gärtner recht gehabt hatte. Von diesem Moment an fügte sie sich. Und ich war
auf seiner Seite, denn er bewachte diejenigen, die sich nicht selbst bewachen
können. Immer öfter verbrachte ich die Zeit im Garten und lernte, über Gemüse
und Obst, über Blumen und Tiere, denn auch diese Geschöpfe nahm er unter seine
Fittiche. Die erste entscheidende Veränderung bestand darin, dass ich aufhörte
meinen Friesen zu reiten, sondern ich ging mit ihm spazieren, was wohl zu
allgemeiner Heiterkeit beitrug. Es waren dieselben Felder, dieselben Wälder,
und doch war es, als würde ich sie, aus der veränderten Perspektive und dem
verringerten Tempo ganz neu entdecken“, erzählte Magdalena mit verklärtem
Blick. „Und dieser junge Gärtner war niemand anderes als Onkel Toni“, warf nun
Maria ein. „Ja, das war er. War wohl nicht schwer zu erraten“, gab die
Großtante lächelnd zu, „Unsere Freundschaft wurde immer enger, und eines Tages
gestand er mir, dass er nach Hause müsse, denn seine Eltern konnten den Hof
nicht mehr alleine bewirtschaften. Er war unsagbar traurig. Ich spürte, dass
ich mir nicht mehr vorstellen konnte auch nur einen Tag ohne ihn zu verbringen,
und es gab nur eine Möglichkeit diesen Abschied zu verhindern, nur einen, der
angemessen wäre. Wir mussten heiraten. Dann könnte, ja dann musste ich mit ihm
gehen. Das schlug ich ihm rundheraus vor. Wenige Tage später heirateten wir. Es
war ein ganz großer Skandal, und meine Mutter meinte, dass ich nie wieder zu
kommen bräuchte, so lange ich die Frau dieses ordinären Subjekts wäre, ja,
genau so hatte sie sich ausgedrückt. Ich habe das Schloss nie wieder betreten.
Der Einzige, der nach wie vor zu mir hielt war mein Vater, der mich dann auch
ab und an besuchen kam, aber er war zu schwach und zu abhängig, als dass er
sich offen dazu bekennen konnte. Aber es war mir egal, denn ich war glücklich
und bin es bis heute.“ Langsam sah sie auf, als würde sie aus einer weit
entfernten Vergangenheit auftauchen in die Gegenwart, die dereinst auch
Vergangenheit sein würde und in der die Zukunft schlummerte. „Maria, ganz
gleich was Du tust, mach es, weil es Dich in Deiner Lebendigkeit befördert,
nichts weiter zählt!“, war Magdalenas Resümee. „Warum hast Du mich nach all
diesen Jahren zu Dir eingeladen?“, fragte Maria nochmals. „Weil ich wollte,
dass Du Dich erinnerst“, sagte Magdalena kryptisch. „Woran sollte ich mich
erinnern?“, fragte Maria irritiert, auch wenn sie wohl eine Ahnung davon hatte,
denn sie hatte bereits begonnen sich zu erinnern. „Deiner selbst zu erinnern“,
erklärte Magdalena kurz, „Du warst damals ein Mädchen, das sich dem Leben
zuwenden wollte, das offen war und voller Träume. So hast Du mir erzählt, dass
Du so viel lernen möchtest, dass Du allen kranken Tieren helfen könntest. Doch
dann ist etwas passiert, denke ich, denn Du hast Dich verändert, ich kann nicht
genau sagen wohin, aber auf jeden Fall weg von Dir. Als Du hierher kamst, da
wirktest Du beängstigend, so wie jemand, der sich Schicht um Schicht einen
Panzer um sich baute und nun irgendwo im Niemandsland zwischen dem
verletzlichen, doch liebesfähigen Menschen und der Panzerung, die den anderen
suggerieren soll, dass Du souverän und unantastbar bist.“ Maria sah sie an. Ihr
erster Reflex war sich aufzulehnen. Das konnte nicht stimmen. Das durfte nicht
stimmen. Denn es tat weh, weh sich einzugestehen, dass man hinter sich ließ,
was einem wert war, um etwas hinterher zu jagen, dessen Wert sich nur aus einer
verschwommenen, dubiosen Vorstellung ergab. Jeder sagte es, dass man sich
besser fühle, wenn man Erfolg hätte, einen Erfolg, der vor der Welt zählte. Die
Yacht in Monaco und das Zweitdomizil in Hawaii, das repräsentierte Erfolg. Doch
einer Kuh zu helfen ein Kalb zur Welt zu bringen, das partout falsch lag oder
ein Rehkitz aufzuziehen, dessen Mutter – natürlich versehentlich – erschossen
wurde, so dass es frei leben konnte, oder ein behindertes Kind zum Lächeln zu
bringen, oder einem selbstmordgefährdeten Menschen neue Hoffnung zu schenken,
das galt nicht als Erfolg, denn das brachte einem selbst nichts ein, außer
vielleicht die Wärme eines Glücks, das nicht in Zahlen messbar ist. Jahre ihres
Lebens war sie diesem Bild hinterhergelaufen, da konnte sie nicht plötzlich
sagen, das war alles falsch, nicht plötzlich eingestehen, dass sie Jahre ihres
Lebens für die falsche Sache vergeudet hatte. „Aber vielleicht sind es gerade
diese Umwege, die uns erkennen lassen was das Richtige ist oder das was mir und
meinem Leben Sinn und Wert verleiht“, erklärte Maria, in aller
Unvorhersehbarkeit, „Vielleicht führt uns gerade das Gekünstelte zur
Selbstverständlichkeit.“ Und während die Sonne hinter dem Horizont verschwand
und die schneebedeckte Landschaft mit einem sachten Rot überzog, herrschte in
der Welt um sie, aber auch in diesem Haus, in ihren Gedanken und in ihren
Herzen eine Art des Friedens, wie es nur sein kann, wo man sich mit sich
selbst, mit seinen Verfehlungen ebenso wie mit seinen Treffern, ausgesöhnt hat.
Und in ihren Tassen dampfte der Kräutertee. „Es ist gut wie es ist“, setzte
Maria hinzu. Eine verwirrte kleine Schneeflocke, ein kleines zartes Elfchen
winkte ihr durchs Fenster zu bevor es sich niedersinken ließ und zu ihren
Schwestern kuschelte. Und das Webschiffchen zog seine Bahn, eine neue Zeile
hinzuzufügen zum Webbild des Lebens. Die Stille ummantelte sie wie eine
schützende Hülle, Stille, die sie sonst nicht ertragen hätte. Plötzlich war sie
voller Leben. Plötzlich war sie voller Möglichkeiten.
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