Verantwortung zu üben
Maria fühlte sich angenommen. Schon lange hatte sie nicht
mehr an all die Dinge gedacht, die nach wie vor in ihrem Auto lagen. Es würde
sich schon ergeben, irgendwann, und dann würde es auch noch passen. Immer mehr
Arbeiten nahm sie ihrer Großtante ab. Hatten sie die Verrichtungen im Stall in
den ersten Tagen noch gemeinsam erledigt, so sagte Maria immer öfter zu ihrer
Großtante, „Ich mach das schon.“ Und dabei hatte sie den Eindruck, dass ihr
Magdalena sehr dankbar war. Es war, Maria, als würden die Kräfte ihrer
Großtante nachlassen, auch wenn sie sich wie immer zu bewegen schien.
Vielleicht, dass es die halbe Minute länger war, die sie sitzen blieb, das
kurze Kräfte schöpfen bevor sie sich von einem Ort an den anderen begab. Maria
war aufmerksamer geworden und zugewandter. Kurz schoss ihr der Gedanke durch
den Kopf, dass ihre Großtante nur auf jemanden gewartet hatte, dem sie ihre
Tiere, mit denen sie ihr Leben teilte, anvertrauen konnte, dass sie durchhielt
bis es so weit war, um unbesorgt gehen zu können, doch mit leisem Schaudern
schob Maria diesen Gedanken wieder bei Seite. Mehr noch, sie schalt sich selbst
ob solch eines Ansinnens. Ihre Großtante war zwar schon 92 Jahre alt, aber bis
jetzt hatte sie alles ohne Probleme gemeistert. Warum sollte das plötzlich
anders sein? Doch da lenkte sie ein Geräusch ab.
„Hörst Du das?“, fragte Maria unvermittelt.
„Was denn?“, ertönte eine Gegenfrage aus der Küche, in der
ihre Tante gerade Tee aufbrühte.
„Es klingt wie ein Winseln“, meinte Maria, die angestrengt
lauschte.
„Das wird wohl Mia oder Mara sein“, entgegnete Magdalena
kurz.
„Nein, die beiden liegen schnurrend auf der Ofenbank, und
haben keinen Grund zu winseln“, entgegnete Maria kurz, „Außerdem hört sich ihr
Jammern ganz anders an.“ Erstaunt hörte sie
ihre eigenen Worte, erstaunt, weil sie schon so genau zu differenzieren gelernt
hatte. Es war in der Nacht schneidend kalt geworden. Der Winter zeigte sich von
seiner unerbittlichsten Seite, so dass der Schnee seine Leichtigkeit verloren
und zu schweren Brocken gefroren war.
„Ich denke, das kommt von Draußen“, erklärte Maria nachdem
sie nochmals genau hingehört hatte.
„Ich glaube zwar nicht, dass sich irgendwer oder irgendwas
bei der Kälte hinauswagt, aber Du kannst ja mal nachsehen“, forderte Magdalena,
die genau merkte, dass es ihrer Nichte keine Ruhe ließ, während sie selbst sich
mit dem heißen Tee zu den Katzen auf die Ofenbank setzte.
„Gut“, sagte Maria und öffnete vorsichtig die Türe. Sofort
schnitt ihr die eisige Luft durch die Haut. Ihr Blicke schweifte über die
umgebende Landschaft, um erst zuletzt in der Nähe zu halten. Da war nichts
weiter als ein schwarzes Knäuel, mitten vor der Türe. Es wirkte wie alte
Fetzen, achtlos hingeworfen. Maria ging in die Hocke um sich das undefinierbare
Etwas genauer anzusehen. Da erst erkannte sie was es war, und ein kurzer Schrei
des Entsetzens entrang sich ihrer Kehle.
„Mein Gott, das lebt ja!“
Wenige Minuten später hatte sie die schwarzen Fellknäuel ins
Haus gebracht und vor dem Kamin auf eine Decke gelegt. Die Katzen hatten sich
nicht bewegt, außer, dass sie träge beobachteten was vor sich ging, während
Maria darüber kniete und versuchte sich ein Bild zu machen. Es handelte sich um
eine Hündin, eine pechschwarze Hündin, die offenbar so kraftlos war, dass die Augen
nicht mehr öffnete. Sacht legte Maria ihre Hand auf die Seite der Hündin und
spürte die Knochen unter dem Fell. Sie schien stark abgemagert zu sein. Dagegen
waren die Zitzen ausgezehrt. Der Atem ging nur mehr ganz langsam und flach.
Starr blickte Maria die Hündin an. Noch nie hatte sie den Tod so bedrohlich
nahe gefühlt.
„Sie hat sich gänzlich verausgabt“, vernahm plötzlich Maria
die Stimme ihrer Großtante neben sich, „Eine Hündin gibt alles, auch ihr
eigenes Leben, um ihre Welpen zu retten. Ich glaube, die kommt von dem
Einsiedler oben am Hügel. Er hat schon öfter Hündinnen ausgesetzt, wenn sie
einen Wurf hatten, aber dass er das fertigbringt, mitten im Winter, das hätte
ich nicht einmal ihm zugetraut.“
„Wir werden sie doch retten können?“, fragte Maria, obwohl
sie Angst vor der Antwort hatte oder weil sie hören wollte, dass sie unrecht
hatte.
„Ich fürchte, wir werden nicht mehr viel tun können“, meinte
Magdalena kopfschüttelnd, die spürte wie nahe es ihrer Nichte ging, „Aber ich
denke, es wäre in ihrem Sinne, wenn wir uns um ihre Kleinen kümmerten. Den
ganzen Weg bis hierher hat sie sie gebracht, einen nach dem anderen, instinktiv
jemanden gesucht, der sich um die Welpen kümmert, wenn sie es nicht mehr kann.
Sie ist ein kluges Mädchen. Jetzt kann sie ruhig sein. Es ist alles gut.“
Und während die Hündin dalag, immer noch mit geschlossenen
Augen, schien wirklich so etwas wie Ruhe einzukehren. Jetzt konnte sie sich
ausruhen, loslassen, endlich schlafen. Langsam begannen sich die Kleinen zu
rühren. Tapsig suchten sie die Nähe der Mutter. Die Wärme schien sie zu
beleben, so dass sie sofort an die Zitzen wollten. Unbeherrscht, ganz nach
Welpenart, stießen sie daran, doch da kam nichts mehr. Leise winselnd ließen
sie nach ein paar Versuchen ab.
„Sie brauchen was zu fressen“, sagte Maria lapidar, „Die
Hündin scheint keine Milch mehr zu haben. Was sollen wir tun?“
„Ich denke, dass unsere Lisa doch bereit sein wird ein wenig
von ihrer Milch abzutreten“, meinte Magdalena kurz, um dann hinüber in den
Stall zu gehen und die Kuh, die im Sommer ein Kälbchen zur Welt gebracht hatte,
zu melken. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück, mit einer vollen Kanne
Milch, die sie am Ofen wärmte und in zwei kleine Fläschchen füllte. Diese
wenigen Minuten erschienen Maria wie Stunden, als würden genau diese Minuten
darüber entscheiden ob die Welpen lebten oder nicht.
„Zwei Fläschchen?“, fragte Maria verdattert, „Aber wie soll
das gehen, es sind ja vier Welpen?“
„Und wir sind nur zu zweit“, erklärte Magdalena lächelnd,
die sehr dankbar war, dass Maria solche Sorge zeigte und sich der Kleinen
annahm. Sie war wieder da, das Mädchen von damals, für die das Leben mehr
zählte als alles andere.
„Hier“, sagte Magdalena, und drückte Maria das eine
Fläschchen in die Hand, während sie selbst das andere nahm. Vorsichtig nahmen
beide einen der Welpen auf ihren Schoß und boten ihnen die Milch aus dem
Fläschchen an. Zuerst war es schwierig, aber sobald sie merkten, dass es gut
war, was da heraus kam, sogen sie begierig daran, so lange bis sie vor
Erschöpfung einschliefen. Dann legten sie die beiden zurück und nahmen sich die
anderen beiden vor. Bald schon lagen alle fünf schlafend vor dem Kamin. Maria
saß daneben, voller Unruhe und Sorge, als sie plötzlich spürte, wie Magdalena
ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter legte, ganz sachte, eine kleine, warme
Hand.
„Sie werden es schaffen“, sagte ihre Großtante leise, und es
klang überzeugend. Vielleicht auch, weil Maria wollte, dass es überzeugend
klang.
„Ich hoffe es so sehr, alle fünf“, entgegnete Maria, die den
Blick nicht von ihnen wenden konnte. Still und friedlich schliefen sie,
offenbar mit sich und der Welt zufrieden, „Sie denken nicht an morgen oder an
eine Altersabsicherung, nur dass sie jetzt einen Platz gefunden haben, wo sie
sein können.“
„So ist es“, bestätigte Magdalena, „Doch wir sollten uns
jetzt ausruhen. Wir werden unsere Kräfte in den nächsten Tagen noch brauchen.“
„Wahrscheinlich hast Du recht“, meinte Maria, die ihre
Erschöpfung jetzt bemerkte, „Darf ich heute hier schlafen? Ich möchte sie nicht
alleine lassen.“
„Natürlich“, antwortete Magdalena, und während Maria ihr
Lager neben dem der Hunde aufschlug saßen die Katzen immer noch auf dem Kamin
und sahen mit mäßigem Interesse zu.
Und als sich Maria niederlegte, da wusste sie, dass sich
dieses Leben ihr anvertraut hatte. Sie hatte das Anvertraute angenommen und
wollte sich kümmern, so gut sie konnte. Und die Farben, die das Schiffchen in
das Webbild des Lebens wob, waren leuchtend hell, wie ein neuer Morgen. Und es
war der Abend des neunten Advents.
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