Im Leben verloren
Maria hatte also ihr Lager neben dem der Hunde
aufgeschlagen. Trotzdem sie sich wie erschlagen fühlte, fand sie doch keine
Ruhe. Unverwandt lauschte sie in die Dunkelheit, aber sie hörte kaum etwas
anderes als die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge von ein paar Lebewesen, von
denen sie bis vor wenigen Stunden noch nicht einmal wusste, dass sie auf der
Welt waren. Still lag sie da, versuchte Schlaf zu finden. Was war es, das sie
so anrührte, dass alles andere plötzlich nebensächlich erschien? Was war
geschehen, dass sie in diesem Moment genau wusste, dass es nur eine adäquate
Möglichkeit gab zu reagieren? Das Leben selbst hatte sie aufgefordert eine
Entscheidung zu treffen. Und Maria hatte sie angenommen. Die Frage war die nach
einer Annahme, und ihre Antwort war klar und eindeutig, Ja. Nicht nur in
Worten, auch in ihren Gedanken, in ihren Taten, war es reinste Zustimmung.
Fokussierend auf diesen Moment des Gebraucht-werdens. Hineingestoßen in eine
Situation, in der es nicht mehr abzuwägen gab, sondern eine Hinwendung verlangt
wurde, heruntergebrochen auf die existenziellsten aller Bedürfnisse. Nahrung.
Zuwendung. Schutz.
Und als der Morgen graute, als der Hahn krähte, da legte
Maria die Hand auf die Hündin, auf ihren ausgemergelten, ausgezehrten Leib. Er
war kalt. Sie lag da, als wäre sie noch im Schlaf befangen, doch es war ein
Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachen würde. Dennoch drückten sich die Welpen
verzweifelt an sie, als könnten sie ihrer Mutter durch ihre Wäre das Leben
zurückgeben. Die kleinen Schnauzen stupsten sie in die Seite, als könnten sie
sie dazu bringen sich zu bewegen. Doch es rührte die Mutter nicht mehr. Nichts
mehr konnte sie rühren, sie erreichen.
„Nun hat sie Ruhe gefunden“, sagte Magdalena in sanftem Ton,
als sie sich an diesem Morgen neben ihre Nichte setzte, „Erst jetzt, da sie
wusste, sie hatte ihre Welpen an jemanden übergeben, der sich um sie kümmern
würde.“
„Aber woher wusste sie es? Woher wusste sie, dass wir sie
und ihre Kleinen nicht genauso schäbig behandeln wie ihr Besitzer?“, fragte
Maria irritiert, die noch immer nicht viel wusste von den verschlungenen Wegen,
die das Leben findet sich selbst zu erhalten.
„Es gab für sie nichts zu wissen. Wissen ist nicht immer die
richtige Kategorie“, versuchte Magdalena zu erklären, mit Worten, die in eine
Welt gehörten, die Maria bisher fremd war, eine Welt voller lebendiger Wunder,
und doch vermochten sie die Welt der Rationalität, in der Maria bisher gewohnt
hatte, zu erreichen und zu bereichern, „Es war wohl nichts weiter als eine
Ahnung, ein Instinkt, dem sie folgte. Es gab nur eine Chance. Sie hatte keine
Zeit langwierig abzuwägen, sondern sie musste handeln. So setzte sie alles auf
eine Karte, indem sie auf uns setzte.“
„Ungeachtet ihrer selbst, ihres eigenes Lebens“, meinte
Maria nachdenklich.
„Es ist der unfehlbare Instinkt einer Mutter, einer jeden
Mutter. Vielleicht ist es auch das, was es der Frau erlaubt das Leben auf eine
andere Weise zu verstehen als der Mann“, sann Magdalena, „Das Leben, aber auch
den Tod. Sie ist die unmittelbare Übermittlerin, der Mann nur der mittelbare,
aber beide haben ihren Zugang, beide ihre Rolle, die erst im Miteinander des
Erfahrens ein Ganzes entsteht, wo sich die beiden Blicke, die beiden Welten
einen und sich ergänzend versöhnen.“
„Nicht in der Abgrenzung, in der Abwägung von besser und
schlechter, sondern im Belassen in der Eigenheit des spezifischen Erlebens, das
ist wohl das Geheimnis eines harmonischen Miteinander“, versuchte Maria sich
auf einem Gebiet, auf dem sie alles andere als sicher war, doch es war ein
Wagnis, aus das es sich einzulassen galt, „Es ist nicht leicht.“
„Ganz und gar nicht, aber es wird reich belohnt, mit innerer
Fülle und Reichtum“, sagte Magdalena leise, „Die Ankunft anzunehmen,
mitzugehen, um den Abschied mitzutragen, das ist in letzter Konsequenz das
Geheimnis des Lebens. Es ist eine Aufforderung zu uns selbst und zu all den
Geschöpfen, die uns umgeben. Vieles relativiert sich, wenn man einmal diesen Zugang
für sich geöffnet hat.“
Sachte nahm Maria die kalte, in einem immerwährenden Schlaf
befangene Hündin, auf ihre Arme. Leicht fühlte sie sich an, als hätte sie all
die Sorge, die sie umgetrieben hatte, und auch die Beschwerlichkeiten hinter
sich gebracht, so dass sie in Ruhe und Stille gehen konnte. Sie ging mit ihr
hinaus, um ihr hinter dem Haus, unter einer Tanne ein Grab zu bereiten. Und der
Schnee, der noch fallen würde, würde es zudecken, so dass bald nichts mehr
davon sichtbar sein würde, aber Maria würde ihrer gedenken, jedes Mal, wenn sie
an dieser Tanner vorüberkäme. Es war ein guter Platz unter dem riesigen,
stolzen, hochaufragenden Baum mit den ausladenden Ästen. Doch Maria hielt sich
nicht lange auf, denn sie wusste, dass da jetzt im Haus jemand war, der ihrer
bedurfte, im wahrsten Sinne des Wortes, und die Hündin, die sie gerade begraben
hatte, würde es gutheißen. Schließlich war sie es selbst gewesen, die Maria
ihre Kleinen anvertraut hatte. Wie nahe doch Tod und Leben beieinander liegen.
Fraglos hatte die Hündin das ihre für ihre Welpen aufgeopfert, dass das Leben
weitergeht.
„Damit das Leben weitergeht ...“, wiederholte sie für sich
selbst, doch wo hatte sie diesen Satz schon einmal gelesen? Und wie von Ferne
stiegen die Zeilen des Gedichts von Walt Whitman auf:
„Wozu bin
ich? Wozu nutzt dieses Leben?
Die Antwort: Damit du hier bist.
Damit das Leben nicht zu Ende geht, deine Individualität.
Damit das Spiel der Mächte weiter geht
und du deinen Vers dazu beitragen kannst.“
„Der Nutzen des Lebens, ist dass ich hier bin, dass durch
mich das Leben weitergeht?“, dachte Maria, „Bin ich also nichts weiter als eine
Glied in einer langen Kette der Generationen? Nichts weiter als eine
Verbindung, die sich einfügt? Nichts weiter? Und wenn ich das letzte Glied in
der Kette bin, wenn nach mir nichts mehr kommt, dann gibt es viele andere
Ketten, die weiterlaufen und es ist letztlich egal. Ich gehe und mit mir endet
die Kette und das war es dann? Das soll es gewesen sein? Hat das Leben denn
einen Sinn, wenn man nichts ist als ein Glied in der Kette, die zwar sonst
abreißt, aber dem Großen und Ganzen macht dieses Abreißen nichts. Es ist dann,
als wäre ich nicht gewesen. Acht oder neun Jahrzehnte hier zu sein, vielleicht
auch weniger, vielleicht mehr, was doch auch keine Rolle spielt, weil es keine
Spuren geben wird, weil alle sich umdrehen und gehen, wenn sie sich überhaupt
hingedreht haben. Sicherlich, es gibt sie, die Menschen, von denen man noch
nach Jahrhunderten spricht, deren Lebensdaten und Werke Generationen von
Schülern indoktriniert werden, aber wie viele sind das schon, aus all den
Millionen und Abermillionen, die je gelebt haben. All die Vergessenen, all die
nicht einmal Vergessenen, weil sie nie jemand im Gedächtnis hatten. Ein
Waisenkind, das ganz allein in der Welt steht. Ein kleiner Soldat, tapfer zwar,
aber verloren, wenn er heimkommt, verlorener, als wenn er sein Leben auf dem
Schlachtfeld gelassen hätte, verlorener als ein Staubkorn im Wind. Der Platz
neben seiner Frau, den findet er besetzt. Die Mutter tot. Der Vater tot. Weil
sie es nicht ertrugen. Abgeschoben. Nutzlos. Nicht einmal mehr vergessen, weil
sie niemand mehr sieht, weil sie niemals waren, weil sie keinen Blick und
keinen Gedanken auf sich zogen, weil sie niemals Beachtung erfuhren. Weil sie
waren, ungesehen und unerinnert. Und das Spiel der Mächte wird weitergehen,
auch ohne mich, ohne mich, ohne Dich und so viele andere auch. Unaufhaltsam.
Das Spiel der Mächte, die uns durchrütteln und wie Marionetten verschieben, in
einer Welt die voller Ohnmächtiger ist. Und ich bin eine von ihnen. Doch in
ihrer Unbedeutsamkeit sind wir alle voneinander isoliert. So entsteht das Ich.
Jeder für sich alleine, bis auf die wenigen Glücklichen. Aber wer ist das
schon. Jeder ist eine Insel, inmitten eines Ozeans des paralysierten
Schweigens.“
Und Maria ging zurück ins Haus, sich dennoch zu kümmern.
Vier Welpen, die gefüttert werden mussten. Eine Großtante, die sie unterstützen
wollte und eine offene Frage, die in ihr bohrte. Vielleicht war es keine Frage
mehr, weil sie die Frage nicht mehr sehen wollte, wo sie doch die Antwort in
der Sinnlosigkeit, im Nihilismus gefunden hatte. Aber wenn es doch ganz gleich
war, dann konnte sie auch weitermachen. Einfach weitermachen. Damit die Zeit
verginge. Bloß deshalb. Dass man seine Kräfte einsetzte, müde wurde und
schlafen konnte. Bloß deshalb. Vielleicht war es auch das Einzige. Zusehen,
dass die Zeit verginge, zusehen, dass man müde genug war, dass der Schlaf die
Gedanken ablöste. Bloß das.
Und diesmal war es ein dumpfes Grau, das am Ende des
Webschiffchens hing, das hurtig eine neue Reihe dem Webbild des Lebens
einfügte, so dass die Farben sich dämpften und der Schatten sich auch über
helle Stellen legte. Doch es war nicht ganz dunkel, war noch Grau und nicht
Schwarz. Und es war der Abend des zehnten Advents.
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