Die Unerbittlichkeit der Zeit.
Maria von Matialis war erwacht, geweckt durch den
mittlerweile vertrauten Ruf des Hahnes, war geweckt in einen neuen Tag, der
kam, in aller Unerbittlichkeit. War sie die letzten Tage voller Tatendrang aus
dem Bett gesprungen, so fühlte sie sich an diesem Tag unendlich müde. Die Gedanken
kamen zurück, aber vielleicht kehrten sie auch gar nicht zurück, sondern waren
immer da gewesen, treu an ihrer Seite, bloß, dass der Schlaf besänftigend die
Türe geschlossen hatte, zwischen ihr und ihren Gedanken, sie separierten
voneinander, für wenige Stunden der sorglosen Vergessen, der
Selbstvergessenheit. Doch die Türe war nur angelehnt und das Erwachen war wie
ein kleiner Luftzug, der doch stark genug war die Türe wieder aufzustoßen.
Sofort stoben sie herein, all die unseligen Gedanken, die sie angesprungen und
sich an ihre festgekrallt hatten wie Kletten, als sie da draußen stand, am Grab
der Hündin, unter der Tanne. Sie sagte nicht, „Herzlich willkommen“, nicht
einmal „Hallo“, denn sie wollte sie weder willkommen heißen noch begrüßen,
sondern sie loswerden.
„Haut ab“, sagte sie zu den Gedanken, doch die Gedanken
hörten nicht und blieben. Am liebsten hätte sich Maria in irgendeine Ecke
verkrochen, dort zu bleiben, bis es vorbei wäre, endlich vorbei. Doch als sie
sich aufsetzen wollte, von ihrem Lager, das sie neben dem der Welpen
aufgeschlagen hatte, bemerkte sie, dass sich etwas bewegte, dass etwas auf ihrer
Decke lag. Die Kleinen hatten sich offenbar in der Nacht nicht nur aneinander,
sondern auch an sie gekuschelt. Sie suchten die Wärme, die sie zuvor bei der
Mutter gefunden hatten. Jetzt war diese nicht mehr da. Aber es schien sie nicht
zu stören.
„So schnell ist man vergessen“, schoss es Maria
unwillkürlich durch den Kopf, „Kaum ist man weg, schon ist man vergessen. Ein
Äquivalent genügt. Vielleicht nicht ganz das gleiche, aber immerhin, ich
erfülle auch meinen Zweck.“
„Es ist gut, dass Du da bist“, drang eine vertraute Stimme
an Marias Ohr, „Ich könnte mich nicht mehr um sie kümmern, denke ich, nicht so
wie es notwendig wäre.“ Maria sah hinauf zu ihrer Großtante, die auf der
Eckbank Platz genommen hatte. Sie wirkte müde, doch es war nicht die Müdigkeit,
die man erlebt, wenn man eine Nacht nicht genügend Erholung im Schlaf fand.
Auch nicht die von zwei Nächten. Es war die Müdigkeit, die kam gegen Ende eines
gelebten Lebens. Es war die Müdigkeit des Lebens, die sich nicht bleischwer auf
die Schultern legt, wie die
Lebensmüdigkeit, im Sinne von Lebensüberdrüssigkeit. Ein ganzes Leben voller
Betriebsamkeit und Hinwendung.
„Und wenn sich niemand darum kümmerte, na dann wäre es auch
gut“, erklärte Maria lapidar, „Letztlich ist es doch eh egal.“
„Meinst Du, dass es den Kleinen egal ist ob sie leben oder
nicht?“, fragte Magdalena sanft.
„Nein, natürlich nicht, aber was tut es schon“, erwiderte
Maria, „Wenn sie sterben, wenn wir alle sterben, na dann ist es eben so.
Irgendwann im Frühling würden sie uns alle finden, und dann wäre erst mal ein
kurzes Aufheulen, aber dann gehen alle Menschen wieder zur Tagesordnung über,
und das wäre es dann. Nicht mehr.“
„Und zählt das Leben an sich denn nicht?“, fragte Magdalena
dennoch weiter, „Das Leben hier und jetzt. Wenn Du den Kleinen da etwas zu
Fressen gibst und sie sich dann zufrieden einkuscheln, ist das nicht ein Moment
des erfüllten Lebens?“
„Ein Moment. Nichts weiter. Und dann? Was kommt dann? Moment
auf Moment auf Moment, und am Schluss ist auch das alles egal, denn am Ende
bleibt Nichts“, blieb Maria beharrlich.
„Warum muss denn immer was bleiben? ist es denn nicht ein
Segen an diesem Ende sagen zu können, es war ein Leben voller Leben, voller
lebendiger, atmender Momente, und die wurden mir geschenkt?“, wandte Magdalena
ein.
„Vielleicht ist das für andere genug, aber ich kann das von
mir nicht behaupten, dass es mir genug wäre“, erklärte Maria eigensinnig.
„Das ist schade“, meinte Magdalena, „Denn mehr ist es nicht,
nicht mehr, und doch alles. Mehr als alles. In aller Banalität und
Alltäglichkeit das Herausragende und Besondere. Es ist nur eine Frage der
Wahrnehmung.“
„Du hast es gut“, meinte Maria nachdenklich, „Du hast immer
gewusst was Du wolltest und wohin Du gehörtest. Es war Dir genug.“
„Meinst Du nicht, dass ich auch zweifelte, dass ich nicht
Momente hatte, in denen ich mich ebenso fühlte wie Du?“, fragte Magdalena,
„Hast Du eine Ahnung wie es ist einen Menschen zu verlieren, mit dem man
jahrzehntelang zusammenlebte, der fast schon so etwas wie ein Teil von einem
war, und dann steht man sprichwörtlich vor dem Nichts?“
Maria blickte auf und zu ihrer Großtante hin. Sie hatte
nicht die geringste Ahnung, denn noch nie hatte sie es erlebt, diese tiefe
Einsamkeit nach einem langen, erfüllten Miteinander. So fand sie keine Worte,
und ihr Schweigen war Aufforderung.
„Es ist jetzt beinahe drei Jahre her“, begann Magdalena zu
erzählen, „Am 26. Dezember. So hatten wir noch ein letztes, gemeinsames
Weihnachtsfest. Wir hatten keinen Baum, weil wir nie einen hatten, aber wir lebten
doch immer inmitten des Werdens, also brachten wir es nicht über uns einen Baum
zu fällen und ihm damit sein Leben zu nehmen, bloß um ihn als Schmuck für ein
paar Tage zu missbrauchen bevor er auf dem Müll landet. Dafür hatten wir andere
Rituale. Wir schmückten einen Baum am Waldrand für die Tiere. Vogelfutter
hängten wir an die Äste, und für die Kaninchen, die Rehe und Hirschen fanden
sich Heu und Karotten. Von unserem Fenster aus konnten wir zusehen wie sie sich
daran gütlich taten. Es war ein Fest für uns alle. Das Haus war warm und
gemütlich und voller Freude, einer sachten, stille Freude, weil wir einander
hatten, ein ganzes Leben lang. Weil es immer noch gut war, die Hand in die
seine zu legen und einander zu sein. Und dann, dann kam der Tag des Abschieds.
Er spürte es. Er gab mir die Hand, gleich nach dem Frühstück und ging mit mir
eine Runde durch den Hof, durch die Ställe. Es war ein ganz besonders schöner
Tag. Nach vielen trüben, grauen Tagen war zum ersten Mal wieder die Sonne
durchgekommen, als wollte sich die Welt noch einmal in einem besonders
freundlichen Licht zeigen. Zum Abschied. Aber das ist wohl meine
Interpretation, denn dem Wetter ist es doch egal, und der Welt auch. Dafür sind
wir zu unbedeutend, und dennoch war es, als hätten wir es uns gewünscht, und es
wäre in Erfüllung gegangen. Ich behalte mir diesen Gedanken, weil er mich immer
noch ein wenig tröstet, auch, dass ich lächelte. Er nahm Abschied, von jedem
einzelnen Tier, bevor er sich von mir verabschiedete. Dann legte er sich in die
Stube, neben den Kamin. Er wollte nur ein wenig ausrasten. Meinte er. Doch er
wachte nie mehr auf. Ich lächelte, aus Dankbarkeit über all die Jahre, die uns
gemeinsam geschenkt waren, über seine Geduld mit mir und seine Liebe, die nie
zu versiegen schien. Ich habe unsere Tradition fortgesetzt, und es war ein Teil
dessen, der mich mit ihm verband und nach wie vor mit ihm verbindet, das
Versenken in die Gemeinsamkeit. Natürlich ist es anders. Ich kann ihn nicht
mehr ansehen, nicht mehr seine Hand nehmen, wenn ich seine Kraft spüren möchte,
nicht mehr auf ihn zugehen und nicht mehr mit ihm sprechen, und doch ist es,
als würde er sich mir zusprechen. Immer wieder kommen Momente, da höre ich
seine Stimme, höre ich wie er mich unterstützt. Wenn ich nicht weiter weiß,
dann frage ich mich was er getan hat, und oft komme ich auf diesem Wege zu
einer Lösung. Es ist mir oft, als hätte sich die Art unserer Beziehung
verändert, aber sie hat nicht aufgehört. Er bleibt in mir und all dem was er
hier geschaffen hat. Das lindert den Schmerz nicht, aber es fügt ihm eine
Dimension hinzu, die ihn nicht destruktiv werden lässt, sondern selbst diesen
in ein Vorwärts und ein Bleiben zugleich wandelt.“
Stille herrscht im Raum. Die Worte legen sich wie ein
sanfter Regenschauer um Marias Gedanken, die sich nun aufmachen und in der
Zuwendung den Reichtum erkennen, den lebendigen Reichtum eines Lebens. Nichts
kann dies ersetzen. Nichts diesem gleichkommen. Gemeinsam zu leben. Gemeinsam
zu erleben. Gemeinsam. Das ist das Zauberwort des Lebens an sich. Und so
unerbittlich die Zeit auch vorwärts schreiten mag, so unwiederbringlich der
Moment ist, so weit er überhaupt ist und nicht nur eine Fiktion, so kann der
gelebte Moment zu einer Verlässlichkeit werden, indem er sich als Spur einprägt,
so dass er uns neu macht, uns formt und aufblühen lässt. Es ist der Moment der
zählt. Es ist nichts weiter. Es ist alles. Es ist das Mehr als Alles. Führend,
leitend, tragend.
Und die Reihe, die das Webschiffchen in das Webbild ihres
Lebens zeichnet, ist eine des Erkennens, der sanften Verständigung, eine Reihe
der Veränderung, die den bisherigen Weg immer undeutlicher werden lässt und den
Nebenweg hervorhebt, der vielleicht zum Hauptweg wird. Es wird sich zeigen. Es
darf sich zeigen. Es gilt den Tag zu leben. Auch diesen. Gerade diesen. Und es
war der Abend des elften Advent.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen