Das Leben atmen
Magdalena betrachtete mit Wohlwollen wie sich das Leben um
sie entwickelte. Ganz unschuldig war sie vielleicht nicht. Könnte man sagen.
Schließlich hatte sie ihre Nichte eingeladen. Aber das war auch schon alles.
Niemals hätte sie sonst diesen Schritt getan, aber jeden der darauf folgte, den
hatte Maria aus eigenem Antriebe gesetzt, aus eigener Kraft und Stärke.
Magdalena wusste nur allzu gut, dass sich im Leben nichts zwingen lässt.
Maria kam und blieb. Es wäre ihr offen gestanden wieder zu
fahren, wann immer sie wollte, aber sie blieb. Aus eigenem Entschluss. Mehr
noch, sie hätte ihre Einladung auch schlichtweg ablehnen oder gar ignorieren
können. Magdalena tat was sie zu tun für richtig hielt. Alles andere überließ
sie. Darin sah sie die große Kunst des Lebens, zu tun, was zu tun war, was für
einen selbst zu tun war, und alles andere anheimzugeben und anzuvertrauen, auf
dass jeder seinen Teil dazu beitrüge. Die Einladung schickte sie. Ihr zu folgen
entschied Maria. Hierher zu kommen und sich umzusehen, das war die Tat von
Maria. Darin sah sie auch eine Parallele, wenn auch nur eine kleine, denn Maria
hatte Uwe zwar eine Postkarte geschickt, aber sie schrieb ihm nur, dass es ihr
gut ginge und er sich keine Sorgen machen müsste. Das war noch nicht einmal
eine Einladung, zumindest keine ausgesprochene. Maria schwieg sich darüber aus,
aber Magdalena hatte schon den Eindruck, dass Uwe das Unausgesprochene gelesen
hatte. Sie verstand auch in welcher Zwickmühle sich Maria befunden haben
musste, denn wenn sie ihn einlud, so war es in die Einöde und damals wusste
Maria nicht ob er nicht etwas erstaunt, wenn nicht gar empört auf solch eine
Einladung reagiert hätte. So ließ sie es offen. Er hätte nun die Postkarte ad
acta legen können und sich denken, wenn sie wiederkommt, dann geht das Leben ganz
normal weiter, aber er entschied sich zu kommen, aus eigenem Antrieb, aus
eigener Kraft und Stärke. So hatten sie über das Unausgesprochene zueinander
gefunden, an einem Ort, an dem sie sich offenbar beide heimisch fühlten. Das
hatten sie selbst getan, und Magdalena tat nichts weiter als die Hände in den
Schoss zu legen und die Dinge zu beobachten, die um sie geschahen. Nichts tun
ist nicht unbedingt Faulheit oder Ignoranz, sondern Zugeständnis an die
Eigenständigkeit des Anderen. Das Leben zu atmen, das Leben atmen zu lassen. So
kam es wohl wie sie es sich gewünscht hatte, aber vielleicht gerade, weil sie
sich nicht einmischte.
Wohlgefällig ruhte ihr Blick auf dem alten Nazl, der mit
Heißhunger die Suppe aß, die sie ihm zubereitet hatte. Er erholte sich sehr
schnell, dank ihrer sorgsamen Pflege. Er wollte so schnell wie möglich wieder
zurück in sein Häuschen, was Magdalena durchaus verstand, denn er war das
Allein-sein gewohnt und wusste sich nur schlecht in einen Hausstand mit
mehreren Menschen einzufügen. Er musste es auch nicht. Nur das Versprechen nahm
sie ihm ab, dass er ab und an vorbeikäme, sich anschauen ließe.
„Du alter Sturkopf“, sagte sie zu ihm, „Du musst jetzt damit
leben, dass wir Dich sehen. Schließlich will ich nicht, dass wir Dich gerettet haben
und dann passiert wieder was. Außerdem schadet es Dir sicher nichts ein oder
zwei Abende in Gesellschaft zu sein, sonst verlernst Du es zum Schluss noch
ganz.“
„Du hast wahrscheinlich recht“, erklärte Nazl gemütlich und
zugewandt, „Ich hätte das schon lange tun sollen, doch noch fürchte ich mich
nicht vor anderen Menschen, also scheint es für mich noch nicht zu spät zu
sein. Ein klein wenig ist es mir auch abgegangen, gebe ich gerne zu, aber
meiste Zeit fühle ich mich sehr wohl in meiner Einsamkeit, nur umgeben von
meinen Tieren, und ich bin so froh, dass die Hündin den Weg zu Euch gefunden
hat.“
„Die Kleinen entwickeln sich wirklich prächtig“, bestätigte
Magdalena, und nahm einen der kleinen Racker auf den Arm, der sich gerade
übermütig daran machen wollte ihren Hausschlapfen anzunagen, „Ist ja klar, Du
kleiner Lauser, hätte ich mir doch denken können, dass Du es bist.“
„Es ist nur traurig wegen der Hündin“, sagte der Nazl,
plötzlich sehr ernst, „Es war ein wundervolles Tier, und ich habe sie im Stich gelassen.“
„Gräm Dich deshalb nicht“, meinte Magdalena nachsichtig, „Du
hast es Dir auch nicht ausgesucht. Aber jetzt weißt Du ja, wer Dir helfen kann,
wenn es Dir mit den Tieren zu viel wird oder Du nicht mehr die Kraft hast sie
zu versorgen.“
„Aber Du kannst ja auch nicht hinaufkommen“, meinte Nazl
erstaunt, „Du bist auch nicht viel jünger als ich.“
„Ich meinte auch gar nicht mich“, entgegnete Magdalena mit
einem schelmischen Lächeln, „Ich denke gar nicht daran mich dort in die
Einschicht hinaufzubegeben, aber wenn ich es richtig sehe, werde ich nicht mehr
allein sein.“
„Wie meinst Du das?“, fragte der Nazl nach.
„Dass die beiden jungen Leute bleiben werden und Du sie zur
Hilfe holen kannst, wenn Du sie brauchst“, antwortete Magdalena offen, „Ich
habe manchmal den Eindruck, dass das Zuviel an Haben, wie er dort draußen in
der anderen Welt herrscht, den Blick auf das Sein verstellt. Man muss ein wenig
auf die Seite treten, heraus steigen aus den Rad um es wirklich erkennen zu
können. Die Möglichkeit hat man hier. Dann erst, wenn man es gesehen hat, ist
eine wirkliche Entscheidung machbar.“
„Das war ja auch der Grund warum ich hierher gegangen bin“,
entgegnete der Nazl, „Es war wohl zu meiner Zeit noch nicht so schlimm wie
heute, aber ich habe es schon damals nicht ausgehalten. Eines Tages, als ich
nicht mehr weiter konnte, und damals hat man noch nichts gewusst von Burnout
oder so, damals hieß es man hätte ein nervöses Leiden oder so etwas.
Jedenfalls, ich machte einen Wochenendausflug, nur um zu Wandern, ganz allein,
und dann fand ich den Hof, mitten im Wald, und außer um meine Sachen zu packen,
ging ich nie mehr zurück. Von heute auf morgen habe ich alles hinter mir
gelassen und es keinen Moment bereut. Denn der Besitz schränkt die Freiheit.“
„Ja, denn sobald ich nicht mehr aufbrechen kann, einfach so,
dann bin ich unfrei“, bestätigte Magdalena, „Und er schürt das Misstrauen
zwischen den Menschen. Sobald ich mehr besitze als jemand anderer, muss ich
ständig auf der Hut sein, denn der andere könnte versuchen es mir wegzunehmen.
Umso mehr ich habe, desto schlimmer wird es. Man verliert Freunde und kann
nicht mehr offen mit den Menschen reden. Immer muss ich daran denken, dass es
sich um einen potentiellen Dieb handelt. Das Leben ist umso einfacher, desto
einfacher ich es mir gestalte.“
„Und auf was kommt es denn wirklich an?“, sann der Nazl, „Es
geht darum am Puls des Lebens zu bleiben.“
„Das hätte mein Toni wohl genauso gesagt“, sagte Magdalena
lächelnd.
„Vermisst Du ihn?“, fragte der Nazl mitfühlend.
„Jeden Moment des Tages“, antwortete Magdalena, „Und auch
nicht, denn ich spüre seine Präsenz hier bei uns, ich spüre es aus dem Werk
seiner Hände und aus den Spuren, die er in mir hinterlassen hat. Manchmal stehe
ich am Zaun und es ist mir als wäre er präsent. Er legt seine Hand auf meine,
wie er es damals tat. Er sieht mich an, wie er es damals tat. Es ist, als wäre
unsere Beziehung nur auf eine andere Ebene gelangt, nichts weiter. Und dann bin
ich mir sicher, dass ich wieder zu ihm komme. Wir werden wieder zusammenkommen.“
„Es ist wunderbar wie Du damit umgehst“, meinte der Nazl.
„Ich gehe nicht damit um“, widersprach Magdalena, „Es hat
sich so gefügt. Sonst hätte ich wohl keinen Tag weiterleben können.“
„So gehen die Menschen nicht einfach weg und lassen uns
alleine, so lange es jemanden gibt, der an sie denkt und sie bleiben lässt“,
sagte der Nazl, „Und wenn es einmal niemanden mehr gibt, dann ist es auch
recht. Auch wenn die Menschen der Religion abschwören, sie wollen immer noch
etwas, was nach ihrem Tod bleibt. Ist es nicht eigentlich unsinnig? Warum fällt
es uns so schwer abzuschließen?“
„Ich bin bereit“, meinte Magdalena mit Überzeugung, „Ich
habe getan was zu tun ist. Alles andere wird sich finden.“
„Wozu bist Du bereit, Tante?“, fragte Maria, die mit Uwe ins
Haus trat und wohl den letzten Satz gehört hatte.
„Ich bin bereit das Abendessen zu zu bereiten“, erwiderte
sie lächelnd, „Und vielleicht kannst Du mir diese Rabauken ein wenig vom Hals
halten, damit ich nicht versehentlich auf einen draufsteige.“
So übernahm Uwe die Aufsicht der Welpen, während Magdalena
und Maria geschäftig in Küche und Stube waren, so dass sie sich alsbald
gemeinsam an den Tisch setzen konnten, miteinander zu essen, während das
Webschiffchen dies am Webbild des Lebens festhielt. Und es war der Abend des
achtzehnten Advents.
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