Der Abgrund
Die Mauer stand, festgefügt, zwischen uns. Nahm uns den
Blick zueinander und das Zueinander, nahm uns die Ansprache aufeinander und das
Aufeinander-zu. Und der Waggon rillte weiter, ungelenkt, ungebremst, dem Abhang
entgegen.
Ich saß in diesem Waggon, raste mit ihm in die eine
Richtung, die die Schienen vorgab, und auch meine Gedanken hatten keine
Ambition diese Richtung zu verlassen. Stur und starr waren sie nach vorne
gerichtet, und dann waren die Schienen zu Ende, trotz aller Vermutung,
unvermutet. Der Waggon wurde in die Höhe geschleudert. Für eine kurze Zeit flog
er, für eine kurze Zeit schien es, als würde er sich noch einmal eines Anderen
zu besinnen und weiterfliegen, auf der andern Seite des Abgrundes unbeschadet
zu landen, für einen kurzen Moment, bevor er wie ein Stein nach unten fiel, um
am Boden unausweichlich zu zerschmettern, in tausend Teile zu zerbersten, und
ich mit ihm. Angesichts der Unausweichlichkeit und der Klarheit des Kommenden,
entspannte ich mich. Es war nicht mehr aufzuhalten, nichts mehr war aufzuhalten.
Es war nicht länger nötig zu kämpfen, nicht länger nötig mich aufzulehnen. Es
änderte nichts mehr. Ich gab mich darein, bewußt und willentlich. Es gab kein
Zurück mehr, kein Mittel gegen das Gegebene und die Gewalt des Faktischen. Hier
gab es, letztlich endlich, keine Ausreden mehr, nur noch das Fügen und Lassen,
gehen lassen und geschehen lassen. Jeder Versuch sich zu wehren wäre reine
Kraftvergeudung gewesen.
Ich gab mich darein und darin frei. „Und ich bin doch nichts
weiter als Deine Lückenbüßerin.“, dachte ich noch ein letztes Mal, als wollte
ich mich versichern, dass er noch da war, der Auslöser, der diesen, nun in den
Abgrund stürzenden Waggon in Fahrt gesetzt hatte, und als ich die Versicherung
gefunden hatte, konnte ich ihn loslassen, konnte ihn davonwehen lassen, als
wäre er nie da gewesen, und ein anderes Bild erschien, mitten in diesen Absturz
in den Abgrund, der wohl nur wenige Sekunden dauerte, und es mir doch noch
ermöglichte dieses andere Bild zu finden, das Bild von dem Tag, an dem Du mich
mir übergabst.
Ich erwachte, an diesem, meinem ersten Tag in meinem Leben
in meiner Welt, und das erste was ich sah warst Du. Du saßt an meinem Bett.
Ruhig und gelassen erwartetest Du mein Erwachen zu mir. Dein Blick umschloss
mich mit der ganzen Intensität Deiner unbändigen Zärtlichkeit und
Aufnahmebereitschaft, umfasste mich und hob mich in die Lebendigkeit. Hätte ich
mir denn ein schöneres Ankommen wünschen können? Hat es je jemanden gegeben,
der aufmerksamer begrüßt worden war? Es war wieder da, dieses Bild, das mich
wissen ließ, dass es vielleicht in irgendeinem Moment davor so war, dass ich
eine Lückenbüßerin war, ja, vielleicht sogar noch kurz vor meinem Erwachen,
aber da, da war ich es bestimmt nicht mehr, nicht mehr und nie wieder. Und in dem
Moment, im gleichen Moment zerbarst der Waggon am Boden des Abgrundes, der
Moment Abschied zu nehmen, denn so wie der Waggon, so würde auch ich
zerbersten.
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