(1) Wenn sie hereinbricht ...
Die Sonne, Helios, mit seinem Sonnenwagen, hatte wohl schon
seine Reise beinahe beendet, sodass sich
der Himmel bereits rot färbte, doch die Dämmerung war noch nicht heraufgezogen,
da fandest Du mich bereits bereit auf meinem Steg.
„Es wundert mich Dich hier vorzufinden, jetzt“, sagtest du
erstaunt.
„Ich bin bereit“, entgegnete ich kurz.
„Wofür bist Du bereit? Du wußtest ja gar nicht, dass ich
kommen würde?“, fragtest Du erstaunt.
„Ich bin auch nicht für Dich bereit, sondern für die Ankunft
der großen Göttin“, antwortete ich entsprechend.
„Aber auch die Göttin Nyx kommt erst nach der Dämmerung“,
sagtest Du weiter.
„Und auch die will ich ankommen sehen, zumindest dieses eine
Mal. Hast Du schon einmal genau beobachtet, diesen Übergang vom Tag zur Nacht,
diese sich immer und immer und immer wieder-holende Herrschaftsübergabe von
Helios an Nyx?“, fragte ich.
„Wieso? Was ist daran Besonderes?“, fragtest Du, weil Du es
nicht besser verstandest und weil Deine Augen noch verklebt waren von der
Überzeugung schon alles zu kennen, vor allem das immer und immer und immer sich
wieder-holende.
„Dann setz Dich zu mir und Du wirst es erfahren. Mit dem Abschied
Helios erscheinen die vielen kleinen Nymphen und Najaden, die Vorboten und
kleinen Dienerinnen der großen Göttin. Sieh nur, dort hüpfen sie heran. ‚Es ist
Zeit’, flüstern sie den Blumen und Blüten zu. ‚Es ist gleich so weit’, wispern
sie den Tieren der Wälder, der Felder, der Berge und der Gewässer. ‚Bereitet
euch vor, denn gleich wird die kommen, die euch deckt, warm und sanft das
fließende, schützende Dunkel über euch breitet und euch in den Schlaf wiegt,
auch mit Träumen beschenkt und diese gewähren lässt, unter ihrem Schutz und
Schirm’, verbreiten sie die frohe Botschaft des Einbruchs ihrer großen
Gebieterin. Dementsprechend heiter und vergnügt sind sie. Und dann erscheint
sie, die große, wunderbare Göttin, die von alters her mit der Erde, ihrer
Schwester Gaia, verbunden ist. ‚Schenk all den Geschöpfen , die meinem Schoß
entstiegen für ein paar Stunden Ruhe’, bat Gaia ihre Schwester Nyx einst, und
da Nyx ihre Schwester Gaia aufs innigste liebt und ihr aufs zärtlichste zugetan
ist, tat sie dies auch, seit jeher, einem Jeher, das viel weiter geht als
Menschengedenken, ja als auch nur Menschenahnung. Sieh nur, jetzt tritt sie
heran, die Tochter des Chaos, die wohl mit der Ruhe auch ein kurzweiliges
Vergessen bringt, wohltuendes, beruhigendes Vergessen. Schön ist sie, die
Beherrscherin der Nacht, schlank und hoch ihre Gestalt, umwehen schwarze,
luftige Schleier ihren Leib, während sie ihre Arme ausbreitet, die Welt mit
ihrer Gnade zu überschütten. Stählern und düster wirkt sie, umweht von der
Finsternis, doch belebend sind ihre Gaben. Und sie kommt mit großem Gefolge,
Hypnos, der Schlaf und Oneiroi, der Traum folgen ihr ebenso wie Thanatos, der
friedliche Tod, der die Menschen sanft in die mütterlichen Arme Persephones
bettet“, beschrieb ich.
„Recht hast Du. Wunderschön, erschreckend wunderschön ist
es. Wahrscheinlich habe ich deshalb nie so genau hingesehen“, meintest Du,
versunken in den Anblick der sich über die Erde breitenden und sie einnehmenden
Gestalt.
„Und doch ging es nicht immer so friedlich zu“, ergänzte
ich.
„Wieso? Was ist passiert?“, fragte ich irritiert.
„Helios und Nyx trafen einander, und das führte zu heillosem
Chaos. Helios musste auf den Styx schwören, dass er nie wieder seine
vorgegebene Bahn verlassen würde. Ich werde es Dir erzählen, sobald uns Nyx
eingenommen hat“, versprach ich.
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