1406 Nyx (1)


(1) Wenn sie hereinbricht ...


Die Sonne, Helios, mit seinem Sonnenwagen, hatte wohl schon seine Reise beinahe beendet, sodass  sich der Himmel bereits rot färbte, doch die Dämmerung war noch nicht heraufgezogen, da fandest Du mich bereits bereit auf meinem Steg.

„Es wundert mich Dich hier vorzufinden, jetzt“, sagtest du erstaunt.
„Ich bin bereit“, entgegnete ich kurz.
„Wofür bist Du bereit? Du wußtest ja gar nicht, dass ich kommen würde?“, fragtest Du erstaunt.
„Ich bin auch nicht für Dich bereit, sondern für die Ankunft der großen Göttin“, antwortete ich entsprechend.
„Aber auch die Göttin Nyx kommt erst nach der Dämmerung“, sagtest Du weiter.
„Und auch die will ich ankommen sehen, zumindest dieses eine Mal. Hast Du schon einmal genau beobachtet, diesen Übergang vom Tag zur Nacht, diese sich immer und immer und immer wieder-holende Herrschaftsübergabe von Helios an Nyx?“, fragte ich.
„Wieso? Was ist daran Besonderes?“, fragtest Du, weil Du es nicht besser verstandest und weil Deine Augen noch verklebt waren von der Überzeugung schon alles zu kennen, vor allem das immer und immer und immer sich wieder-holende.
„Dann setz Dich zu mir und Du wirst es erfahren. Mit dem Abschied Helios erscheinen die vielen kleinen Nymphen und Najaden, die Vorboten und kleinen Dienerinnen der großen Göttin. Sieh nur, dort hüpfen sie heran. ‚Es ist Zeit’, flüstern sie den Blumen und Blüten zu. ‚Es ist gleich so weit’, wispern sie den Tieren der Wälder, der Felder, der Berge und der Gewässer. ‚Bereitet euch vor, denn gleich wird die kommen, die euch deckt, warm und sanft das fließende, schützende Dunkel über euch breitet und euch in den Schlaf wiegt, auch mit Träumen beschenkt und diese gewähren lässt, unter ihrem Schutz und Schirm’, verbreiten sie die frohe Botschaft des Einbruchs ihrer großen Gebieterin. Dementsprechend heiter und vergnügt sind sie. Und dann erscheint sie, die große, wunderbare Göttin, die von alters her mit der Erde, ihrer Schwester Gaia, verbunden ist. ‚Schenk all den Geschöpfen , die meinem Schoß entstiegen für ein paar Stunden Ruhe’, bat Gaia ihre Schwester Nyx einst, und da Nyx ihre Schwester Gaia aufs innigste liebt und ihr aufs zärtlichste zugetan ist, tat sie dies auch, seit jeher, einem Jeher, das viel weiter geht als Menschengedenken, ja als auch nur Menschenahnung. Sieh nur, jetzt tritt sie heran, die Tochter des Chaos, die wohl mit der Ruhe auch ein kurzweiliges Vergessen bringt, wohltuendes, beruhigendes Vergessen. Schön ist sie, die Beherrscherin der Nacht, schlank und hoch ihre Gestalt, umwehen schwarze, luftige Schleier ihren Leib, während sie ihre Arme ausbreitet, die Welt mit ihrer Gnade zu überschütten. Stählern und düster wirkt sie, umweht von der Finsternis, doch belebend sind ihre Gaben. Und sie kommt mit großem Gefolge, Hypnos, der Schlaf und Oneiroi, der Traum folgen ihr ebenso wie Thanatos, der friedliche Tod, der die Menschen sanft in die mütterlichen Arme Persephones bettet“, beschrieb ich.
„Recht hast Du. Wunderschön, erschreckend wunderschön ist es. Wahrscheinlich habe ich deshalb nie so genau hingesehen“, meintest Du, versunken in den Anblick der sich über die Erde breitenden und sie einnehmenden Gestalt.
„Und doch ging es nicht immer so friedlich zu“, ergänzte ich.
„Wieso? Was ist passiert?“, fragte ich irritiert.
„Helios und Nyx trafen einander, und das führte zu heillosem Chaos. Helios musste auf den Styx schwören, dass er nie wieder seine vorgegebene Bahn verlassen würde. Ich werde es Dir erzählen, sobald uns Nyx eingenommen hat“, versprach ich.

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