(2) Eine unheilvolle Begegnung
Die große Göttin zog unbeirrt weiter, das Land zu decken und
alles was ihm entspross. So hatte ich mich auf den Steg gelegt, die Augen
geschlossen und mich zudecken lassen.
„Keine Mutter kann Dich so zärtlich und behutsam betten wie
die große Göttin“, flüsterte ich in die schwebende Stille der Nacht.
„Du hast mir etwas versprochen“, gabst zu zurück.
„Ja, habe ich. Also
hör zu. Folgendes hat sich zugetragen. Es war zu der Zeit, da Helios seinen
Sonnenwagen abgestellt hatte und Nyx über die Erde schritt. Eos, die
rosenfingrige, die safrangewandete, hatte noch etwas Zeit bis sie den Morgen
ankündigen musste und Selene hatte den ihren Teil bereits getan. So standen die
beiden Göttinnen beisammen und redeten. Helios kam zufällig hinzu und verfolgte
ihr Gespräch. ‚Sie ist so eingebildet und überheblich. Jeden Abend gehe ich
voran, und glaubst Du, sie hätte mich auch nur eines einzigen Blickes
gewürdigt?’, meinte Selene. ‚Völlig richtig. Ich frage mich nur worauf sie sich
eigentlich so viel einbildet. Sie hat so gar nichts Feminines an sich, im
Gegensatz zu mir. Aber die werden gewusst haben warum sie sie in die Nacht
verbannten, wo sie niemand zu Gesicht bekommt’, hörte Helios Eos geifern. Wenn
nun diese beiden so eiferten und über Nyx herzogen, folgerte Helios
messerscharf, musste sie wohl außerordentlich schön sein. Helios, der von sich
selbst wusste welch exorbitante Vorzüge er vorzuweisen hatte und welch
unwiderstehliche, männliche Erscheinung er war, da er – wie die meisten seiner
olympischen Kollegen – viel Zeit damit verbrachte sich selbst zu betrachten,
fühlte seinen Jagdinstinkt geweckt. Diese Göttin musste er erobern um seine
Trophäenliste zu ergänzen. Doch wie sollte er ihr begegnen? Sein Entschluss war
schnell gefasst. Zu ungewohnter Stunde zog er mit seinem Sonnenwagen los, doch
diesmal in die umgekehrte Richtung, um Nyx zu begegnen, in der Mitte der Nacht.
So zog vom Westen übergangslos die Mitte des Tages der Mitte der Nacht
entgegen. Die Erde, von der Sonne beschienen, erwachte, doch zur Unzeit. Er
hatte kein Auge und keinen Gedanken dafür, denn er, Helios, der große
Sonnengott, war ergriffen von der unbegreiflichen, unvergleichlichen Schönheit
der großen Göttin. Sie war sein Gegenteil und damit der ihn komplettierende
Teil. So war er ausgezogen sie zu erobern, doch sie tat nichts als das, was sie
immer tat, indem sie ihn zudeckte mit sich selbst. Dort, wo er vor Staunen
verharrt hatte, dort hatte sich die Hitze der Sonne eingebrannt, um im nächsten
Moment wieder in tiefe Nacht gehüllt zu werden. Nyx umspannte Helios, und so
blieb sie, sieben Mondzyklen lang, sieben Mal 28 Tage lang verblieb sie in
tiefster Finsternis, drohte zu erkalten, und ihre Umarmung war wie ein Würgen.
Gaia weinte, denn sie sah ihre Kinder frieren und dahinwelken in der so lange
währenden Nacht. Gaias Hilferuf erging um sie endlich zu erreichen, die große
Göttin, die sich selbst vergessen hatte, für sieben Mal 28 Tage, in der
Umarmung. Doch jetzt kehrte sie zurück und ließ ihn fahren. Es war ihre letzte
Umarmung und ihre letzte Vergessenheit. Schrecklich und schön, erschreckend
schön ist sie, die große Göttin. Wo sie vorüberzieht, bringt sie Segen, wo sie
bleibt aber Verderben.“
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