1506 Nyx (2)


(2) Eine unheilvolle Begegnung


Die große Göttin zog unbeirrt weiter, das Land zu decken und alles was ihm entspross. So hatte ich mich auf den Steg gelegt, die Augen geschlossen und mich zudecken lassen.

„Keine Mutter kann Dich so zärtlich und behutsam betten wie die große Göttin“, flüsterte ich in die schwebende Stille der Nacht.
„Du hast mir etwas versprochen“, gabst zu zurück.
„Ja, habe ich.  Also hör zu. Folgendes hat sich zugetragen. Es war zu der Zeit, da Helios seinen Sonnenwagen abgestellt hatte und Nyx über die Erde schritt. Eos, die rosenfingrige, die safrangewandete, hatte noch etwas Zeit bis sie den Morgen ankündigen musste und Selene hatte den ihren Teil bereits getan. So standen die beiden Göttinnen beisammen und redeten. Helios kam zufällig hinzu und verfolgte ihr Gespräch. ‚Sie ist so eingebildet und überheblich. Jeden Abend gehe ich voran, und glaubst Du, sie hätte mich auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt?’, meinte Selene. ‚Völlig richtig. Ich frage mich nur worauf sie sich eigentlich so viel einbildet. Sie hat so gar nichts Feminines an sich, im Gegensatz zu mir. Aber die werden gewusst haben warum sie sie in die Nacht verbannten, wo sie niemand zu Gesicht bekommt’, hörte Helios Eos geifern. Wenn nun diese beiden so eiferten und über Nyx herzogen, folgerte Helios messerscharf, musste sie wohl außerordentlich schön sein. Helios, der von sich selbst wusste welch exorbitante Vorzüge er vorzuweisen hatte und welch unwiderstehliche, männliche Erscheinung er war, da er – wie die meisten seiner olympischen Kollegen – viel Zeit damit verbrachte sich selbst zu betrachten, fühlte seinen Jagdinstinkt geweckt. Diese Göttin musste er erobern um seine Trophäenliste zu ergänzen. Doch wie sollte er ihr begegnen? Sein Entschluss war schnell gefasst. Zu ungewohnter Stunde zog er mit seinem Sonnenwagen los, doch diesmal in die umgekehrte Richtung, um Nyx zu begegnen, in der Mitte der Nacht. So zog vom Westen übergangslos die Mitte des Tages der Mitte der Nacht entgegen. Die Erde, von der Sonne beschienen, erwachte, doch zur Unzeit. Er hatte kein Auge und keinen Gedanken dafür, denn er, Helios, der große Sonnengott, war ergriffen von der unbegreiflichen, unvergleichlichen Schönheit der großen Göttin. Sie war sein Gegenteil und damit der ihn komplettierende Teil. So war er ausgezogen sie zu erobern, doch sie tat nichts als das, was sie immer tat, indem sie ihn zudeckte mit sich selbst. Dort, wo er vor Staunen verharrt hatte, dort hatte sich die Hitze der Sonne eingebrannt, um im nächsten Moment wieder in tiefe Nacht gehüllt zu werden. Nyx umspannte Helios, und so blieb sie, sieben Mondzyklen lang, sieben Mal 28 Tage lang verblieb sie in tiefster Finsternis, drohte zu erkalten, und ihre Umarmung war wie ein Würgen. Gaia weinte, denn sie sah ihre Kinder frieren und dahinwelken in der so lange währenden Nacht. Gaias Hilferuf erging um sie endlich zu erreichen, die große Göttin, die sich selbst vergessen hatte, für sieben Mal 28 Tage, in der Umarmung. Doch jetzt kehrte sie zurück und ließ ihn fahren. Es war ihre letzte Umarmung und ihre letzte Vergessenheit. Schrecklich und schön, erschreckend schön ist sie, die große Göttin. Wo sie vorüberzieht, bringt sie Segen, wo sie bleibt aber Verderben.“

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