Humankapital
Mein Bleistift war verschwunden, und ich saß auf meinem
Steg, sann darüber nach wo ich ihn liegengelassen hatte, als sie kam. Beinahe
hätte ich sie übersehen, in ihrem mausgrauen Kostüm unter all den nächtlichen
Grautönen. Ihre ganze Erscheinung war seltsam grau und unscheinbar, als wollte
sie sich selbst unsichtbar machen. Still stand sie neben mir, still und
zurückgezogen.
„Setz Dich doch zu mir“, forderte ich sie unvermittelt auf.
„Ich bin Himankapital!“, stieß sie hervor, leise aber desto
eindringlicher, doch sie setzte sich nicht.
„Nein. Ich weiß zwar nicht was das sein soll, aber für mich
siehst Du aus wie ein Frau“, entschied ich, und nicht nur für mich.
„Der, der die Firma saniert, in der ich arbeite hat gesagt,
die Mitarbeiter wären Humankapital, also ich auch“, blieb sie bei ihrer
Aussage.
„Wieso kannst Du dann hier sein und bist nicht in
irgendeinen Tresor eingesperrt oder, noch besser, liegst auf einem Konto, denn
Kapital muss man doch verstauen und schützen“, erwiderte ich.
„Ja, genau das hat mich auch stutzig gemacht. Das Kapital
einer Firma wird in der Bilanz festgeschrieben und unterteilt in Anlage- und
Umlaufvermögen. Also das wofür ein Unternehmen seine Mittel verwendet“, begann
sie sich zu ereifern, so dass sie unversehens aus dem Grau heraustrat.
„Was erzürnt Dich derart?“, fragte ich entsprechend meinem
Unverständnis.
„Du hast es doch bereits gesagt. Bisher dachte ich wir seien
Menschen, Kollegen oder auch Vorgesetzte und Mitarbeiter, aber an welchem Rang
der Hierarchie oder der inneren Ordnung einer auch immer stehen mag, so sind
wir doch Menschen, atmende, denkende, sich artikulierende, sich mit ihrem
Eigensein einbringende Wesen, und dann wird uns gesagt, wir wären nichts
weiter, als ein Posten zwischen Immobilien und Wertpapieren“, erklärte sie
brüchig.
„Ja, das seid ihr auch. Das siehst Du völlig richtig. Aber
was hat das mit Immobilien und Wertpapieren zu tun?“, fragte ich weiter.
„Wenn aus Menschen Humankapital wird, sollte dieses doch in
der Bilanz aufscheinen, und zwar unter der Rubrik Anlagevermögen, lebendes
Anlagevermögen. Das zeichnet sich dadurch aus, dass es dazu bestimmt ist dem
Unternehmen länger zur Verfügung zu stehen. Natürlich vermindert sich der Wert
eines Anlagegutes durch dessen Gebrauch, und seien wir uns doch ehrlich, auch
wir Menschen unterliegen Verschleißerscheinungen. Ich würde vorschlagen, eine
progressive Abschreibung, denn umso älter, desto schneller geht es mit dem
Verschleiß. Um also älteres Humankapital, sagen wir einmal ab ca. 40 Jahren,
für Firmen attraktiv zu halten, könnte man eine sofortige, 100%ige Abschreibung
im ersten Jahr der Anstellung überlegen, wie es im Augenblick bei geringwertigen
Wirtschaftsgütern möglich ist. Dieses Humankapital muss dann ins jeweilige
Anlageverzeichnis aufgenommen werden, der Einfachheit halber mit einer Nummer,
die das einzelne Gut eingeschrieben bekommt. Wo kämen wir auch hin, wenn das
Humankapital anders behandelt werden würde als beispielsweise der Drucker oder
der PC, die doch auch viel besser und zuverlässiger funktionieren. Und bei Tod
oder ähnlichen Missgeschicken wird verfahren wie bei jedem anderen
Schadensfall“, führte sie aus.
„Mir wird ganz kalt bei dem was Du da erzählst. Das war doch
gar nicht intendiert, denke ich“, versuchte ich zu beschwichtigen.
„Vielleicht nicht, aber Begriffe beeinflussen unser Denken,
und wenn es jetzt noch nicht so gemeint ist, so führt es doch dorthin“, sagte
sie, und in ihrer Stimme lag Resignation.
„Dann geh hin zu diesem Herrn und sag es ihm, sag ihm, ich
bin kein Humankapital, sondern ein Mensch“, schlug ich vor.
„Ich werde es versuchen“, meinte sie, nun wieder leise, und
mir blieb nur die Hoffnung, dass sie es getan hat.
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