1906 Humankapital


Humankapital


Mein Bleistift war verschwunden, und ich saß auf meinem Steg, sann darüber nach wo ich ihn liegengelassen hatte, als sie kam. Beinahe hätte ich sie übersehen, in ihrem mausgrauen Kostüm unter all den nächtlichen Grautönen. Ihre ganze Erscheinung war seltsam grau und unscheinbar, als wollte sie sich selbst unsichtbar machen. Still stand sie neben mir, still und zurückgezogen.

„Setz Dich doch zu mir“, forderte ich sie unvermittelt auf.
„Ich bin Himankapital!“, stieß sie hervor, leise aber desto eindringlicher, doch sie setzte sich nicht.
„Nein. Ich weiß zwar nicht was das sein soll, aber für mich siehst Du aus wie ein Frau“, entschied ich, und nicht nur für mich.
„Der, der die Firma saniert, in der ich arbeite hat gesagt, die Mitarbeiter wären Humankapital, also ich auch“, blieb sie bei ihrer Aussage.
„Wieso kannst Du dann hier sein und bist nicht in irgendeinen Tresor eingesperrt oder, noch besser, liegst auf einem Konto, denn Kapital muss man doch verstauen und schützen“, erwiderte ich.
„Ja, genau das hat mich auch stutzig gemacht. Das Kapital einer Firma wird in der Bilanz festgeschrieben und unterteilt in Anlage- und Umlaufvermögen. Also das wofür ein Unternehmen seine Mittel verwendet“, begann sie sich zu ereifern, so dass sie unversehens aus dem Grau heraustrat.
„Was erzürnt Dich derart?“, fragte ich entsprechend meinem Unverständnis.
„Du hast es doch bereits gesagt. Bisher dachte ich wir seien Menschen, Kollegen oder auch Vorgesetzte und Mitarbeiter, aber an welchem Rang der Hierarchie oder der inneren Ordnung einer auch immer stehen mag, so sind wir doch Menschen, atmende, denkende, sich artikulierende, sich mit ihrem Eigensein einbringende Wesen, und dann wird uns gesagt, wir wären nichts weiter, als ein Posten zwischen Immobilien und Wertpapieren“, erklärte sie brüchig.
„Ja, das seid ihr auch. Das siehst Du völlig richtig. Aber was hat das mit Immobilien und Wertpapieren zu tun?“, fragte ich weiter.
„Wenn aus Menschen Humankapital wird, sollte dieses doch in der Bilanz aufscheinen, und zwar unter der Rubrik Anlagevermögen, lebendes Anlagevermögen. Das zeichnet sich dadurch aus, dass es dazu bestimmt ist dem Unternehmen länger zur Verfügung zu stehen. Natürlich vermindert sich der Wert eines Anlagegutes durch dessen Gebrauch, und seien wir uns doch ehrlich, auch wir Menschen unterliegen Verschleißerscheinungen. Ich würde vorschlagen, eine progressive Abschreibung, denn umso älter, desto schneller geht es mit dem Verschleiß. Um also älteres Humankapital, sagen wir einmal ab ca. 40 Jahren, für Firmen attraktiv zu halten, könnte man eine sofortige, 100%ige Abschreibung im ersten Jahr der Anstellung überlegen, wie es im Augenblick bei geringwertigen Wirtschaftsgütern möglich ist. Dieses Humankapital muss dann ins jeweilige Anlageverzeichnis aufgenommen werden, der Einfachheit halber mit einer Nummer, die das einzelne Gut eingeschrieben bekommt. Wo kämen wir auch hin, wenn das Humankapital anders behandelt werden würde als beispielsweise der Drucker oder der PC, die doch auch viel besser und zuverlässiger funktionieren. Und bei Tod oder ähnlichen Missgeschicken wird verfahren wie bei jedem anderen Schadensfall“, führte sie aus.
„Mir wird ganz kalt bei dem was Du da erzählst. Das war doch gar nicht intendiert, denke ich“, versuchte ich zu beschwichtigen.
„Vielleicht nicht, aber Begriffe beeinflussen unser Denken, und wenn es jetzt noch nicht so gemeint ist, so führt es doch dorthin“, sagte sie, und in ihrer Stimme lag Resignation.
„Dann geh hin zu diesem Herrn und sag es ihm, sag ihm, ich bin kein Humankapital, sondern ein Mensch“, schlug ich vor.
„Ich werde es versuchen“, meinte sie, nun wieder leise, und mir blieb nur die Hoffnung, dass sie es getan hat.

Keine Kommentare: