0607 Der Schreibtisch


Der Schreibtisch


Der Schreibtisch war aufgeräumt. Fein säuberlich war alles verstaut und verwahrt, ja schon beinahe pedantisch. Egal wann er sich daran setzte, immer fand er blindlings was er suchte. Nicht etwa, weil er so ordnungsliebend oder gar pedantisch war, sondern weil er einfach nicht anders konnte. Seit seinem ersten Schultag hatte sie es ihm eingehämmert.

„Ich rackere mich den ganzen Tag für Dich ab, verdiene das Geld, damit wir was zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, koche, bügle, wasche und putze für Dich, und Du hast nichts zu tun als mir Deine Dankbarkeit zu erweisen, indem Du Deinen Schreibtisch zusammenräumst und brav lernst. Lächerlich wenig im Vergleich zu dem, was ich für Dich leiste, aber mehr bringst Du ja sowieso nicht auf die Reihe“, sagte diejenige, die ihn geboren hatte und die ihn liebte. Tag für Tag konnte er sich dieses Sprüchlein anhören, bis er so weit war, dass er es automatisch tat, und dennoch sparte sie sich ihre Worte nicht, Tag um Tag. So wie sie es ihm einhämmerte, mit kleinen, feinen Nadelstichen ins Gedächtnis tätowierte, so suchte er mit Eifer ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Natürlich gelang es ihm nicht, denn jedes Mal, wenn er meinte, jetzt, jetzt hätte es endlich geschafft, war sie schon wieder einen Schritt weiter gegangen.
„Ich habe überall die besten Noten“, verkündete er stolz am Zeugnistag. Sie nahm das Zeugnis in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf und wog bekümmert das Haupt.
„Da siehst Du wie viel Zeit und Mühe ich in Dich investiere, und doch schaut nichts Ordentliches heraus. Ob Du das nächstes Jahr wieder schaffst? Mein Leben ist ein einziges Martyrium, und Du bist noch dazu so undankbar. Schließlich hättest Du das ohne mich niemals geschafft. Wenn ich es genau nehme, habe ich das geschafft, durch Dich“, war ihr Kommentar. Und dennoch, das Zeugnis sah im nächsten Jahr wieder genauso aus und ebenso im Jahr darauf. Und die Ordnung auf seinem Schreibtisch war perfekt. Endlich maturierte er, in gewohnter Manier, als der Beste seines Jahrganges. Wiederum zeigte er sein Zeugnis vor, mit der bangen Erwartung endlich entsprochen zu haben.
„All die Jahre, so viel Mühe, so viel Plage. Nun gut, jetzt hat es geklappt, doch das Leben stellt Dich vor andere, ganz andere Herausforderungen, und ich muss das alles leisten“, war ihr Kommentar. Hatte er sich denn tatsächlich etwas anderes erwartet? Also begann er zu studieren, mit dem selben Einsatz, mit dem selben Ziel, ihr endlich ein Lob, nein, nicht einmal das, bloß ein freundliches Wort abzuringen, doch auch hier verging Semester um Semester.
„Warte nur. Jetzt ist es noch in Ordnung, aber irgendwann wirst Du mich enttäuschen, und all meine Mühe und Plage, die Dich so weit gebracht hat, wird umsonst gewesen sein, waren die Worte einer Mutter, die einen Sohn hatte, dessen einziges Ziel darin bestand ihren Erwartungen gerecht zu werden, doch indem er sie erreichte, lösten sie sich in Luft auf und fanden sich zwei Schritte höher.
„Ich muss es tun, denn sie hat schließlich so viel für mich getan, und ich nichts für sie. Immer werde ich in ihrer Schuld stehen und in allem, was ich bin und tue muss sie meine Dankbarkeit spüren, irgendwann. Sie muss es einfach“, äußerte er einmal gegenüber seinen Freunden.
„Wie lange soll das sein? Für den Rest Deines Lebens?“, fragten diese irritiert.
„Wenn es sein muss auch für den Rest meines Lebens, denn das hat sie mir geschenkt“, antwortete er lapidar.
„Ja, geschenkt. Damit gehört es Dir, und Du sollst es leben, für Dich“, entgegneten diese, doch sie drangen nicht zu ihm durch. Und sein Schreibtisch war perfekt.

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