Der Schreibtisch
Der Schreibtisch war aufgeräumt. Fein säuberlich war alles
verstaut und verwahrt, ja schon beinahe pedantisch. Egal wann er sich daran
setzte, immer fand er blindlings was er suchte. Nicht etwa, weil er so
ordnungsliebend oder gar pedantisch war, sondern weil er einfach nicht anders
konnte. Seit seinem ersten Schultag hatte sie es ihm eingehämmert.
„Ich rackere mich den ganzen Tag für Dich ab, verdiene das
Geld, damit wir was zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, koche, bügle,
wasche und putze für Dich, und Du hast nichts zu tun als mir Deine Dankbarkeit
zu erweisen, indem Du Deinen Schreibtisch zusammenräumst und brav lernst.
Lächerlich wenig im Vergleich zu dem, was ich für Dich leiste, aber mehr
bringst Du ja sowieso nicht auf die Reihe“, sagte diejenige, die ihn geboren
hatte und die ihn liebte. Tag für Tag konnte er sich dieses Sprüchlein anhören,
bis er so weit war, dass er es automatisch tat, und dennoch sparte sie sich
ihre Worte nicht, Tag um Tag. So wie sie es ihm einhämmerte, mit kleinen,
feinen Nadelstichen ins Gedächtnis tätowierte, so suchte er mit Eifer ihren
Ansprüchen gerecht zu werden. Natürlich gelang es ihm nicht, denn jedes Mal,
wenn er meinte, jetzt, jetzt hätte es endlich geschafft, war sie schon wieder
einen Schritt weiter gegangen.
„Ich habe überall die besten Noten“, verkündete er stolz am
Zeugnistag. Sie nahm das Zeugnis in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf
und wog bekümmert das Haupt.
„Da siehst Du wie viel Zeit und Mühe ich in Dich investiere,
und doch schaut nichts Ordentliches heraus. Ob Du das nächstes Jahr wieder
schaffst? Mein Leben ist ein einziges Martyrium, und Du bist noch dazu so
undankbar. Schließlich hättest Du das ohne mich niemals geschafft. Wenn ich es
genau nehme, habe ich das geschafft, durch Dich“, war ihr Kommentar. Und
dennoch, das Zeugnis sah im nächsten Jahr wieder genauso aus und ebenso im Jahr
darauf. Und die Ordnung auf seinem Schreibtisch war perfekt. Endlich maturierte
er, in gewohnter Manier, als der Beste seines Jahrganges. Wiederum zeigte er
sein Zeugnis vor, mit der bangen Erwartung endlich entsprochen zu haben.
„All die Jahre, so viel Mühe, so viel Plage. Nun gut, jetzt
hat es geklappt, doch das Leben stellt Dich vor andere, ganz andere
Herausforderungen, und ich muss das alles leisten“, war ihr Kommentar. Hatte er
sich denn tatsächlich etwas anderes erwartet? Also begann er zu studieren, mit
dem selben Einsatz, mit dem selben Ziel, ihr endlich ein Lob, nein, nicht
einmal das, bloß ein freundliches Wort abzuringen, doch auch hier verging
Semester um Semester.
„Warte nur. Jetzt ist es noch in Ordnung, aber irgendwann
wirst Du mich enttäuschen, und all meine Mühe und Plage, die Dich so weit
gebracht hat, wird umsonst gewesen sein, waren die Worte einer Mutter, die
einen Sohn hatte, dessen einziges Ziel darin bestand ihren Erwartungen gerecht
zu werden, doch indem er sie erreichte, lösten sie sich in Luft auf und fanden
sich zwei Schritte höher.
„Ich muss es tun, denn sie hat schließlich so viel für mich
getan, und ich nichts für sie. Immer werde ich in ihrer Schuld stehen und in
allem, was ich bin und tue muss sie meine Dankbarkeit spüren, irgendwann. Sie
muss es einfach“, äußerte er einmal gegenüber seinen Freunden.
„Wie lange soll das sein? Für den Rest Deines Lebens?“,
fragten diese irritiert.
„Wenn es sein muss auch für den Rest meines Lebens, denn das
hat sie mir geschenkt“, antwortete er lapidar.
„Ja, geschenkt. Damit gehört es Dir, und Du sollst es leben,
für Dich“, entgegneten diese, doch sie drangen nicht zu ihm durch. Und sein
Schreibtisch war perfekt.
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