Zwischen Hoffnung und Gewissheit
Wie seltsam war es doch, dass es geschah
und dass ich es nicht vermutete. Da war etwas Weißes auf meinem Steg, das nicht
dorthin gehörte und das ich nicht kannte. Neugierig ging ich darauf zu, kniete
mich nieder um es näher zu betrachten. Es war ein Brief[1] und
die markante Schrift ließ keinen Zweifel darüber offen wer der Verfasser war.
Aber warum hattest Du mir geschrieben, gerade jetzt? Oder warum überhaupt?
Langsam und vorsichtig hob ich ihn auf, als würde ich etwas sehr Zerbrechliches
in die Hand nehmen, dabei war doch schon alles zerbrochen. Oder doch nicht?
Hastig riss ich ihn auf. Ja, es war doch noch nicht alles. Oder doch? Ich wagte
ihn nicht herauszunehmen. Was sollte ich nur machen? Ihn einfach lesen? Was
könnte schon passieren. Und wenn es doch passiert. Unter meiner Weide suchte
ich Zuflucht, als wenn er mir dort nichts tun könnte. Als ob er mir überhaupt
was tun könnte. Zaghaft begann ich zu lesen:
Liebe
Nyx!
Der
Schnee hat das Land bedeckt und vieles unter sich begraben, Schönes und
Abstoßendes, Gewolltes und Ungewolltes, Getanes und Versäumtes. Doch was es
auch war, die Frühlingssonne ließ den Schnee unerbittlich schmelzen und brachte
es wieder ans Licht, doch es war noch zu früh. Ringsum sprießen und erwachen,
und der Same ward gelegt, der der Pflanzen und der Gedanken. Beides braucht
seine Zeit zu reifen, und der Sommer kam und sorgte dafür, dass aus der Blüte
eine Frucht wurde. Jetzt ist es Zeit für die Ernte. Nicht vor der Zeit, nicht
vor der richtigen Stunde. Doch wann ist der? Der Baum weiß wann er die Frucht
loslassen muss, doch woher wissen wir es, wann ein Gedanke reif ist in Worte,
gar in Taten gefasst zu werden. Ist es zu früh, so kann er misslingen. Ist es
zu spät, so findet er nicht mehr den rechten Widerhall, doch es ist an uns es
zu wagen, an uns ihn in die Freiheit zu entlassen und an uns eine Entscheidung
zu treffen. Denn leider wird nicht alles gut, nur weil es lange währt, aber ich
trage ihn nun schon so lange, trage ihn nun zum Steg am See, in dem sich der
volle Mond in jener Nacht spiegeln wird, trage ihn mit mir und aus mir, da, der
Tag Abschied nimmt und die Nacht hereinbricht, in jener Nacht des vollen,
satten Mondes, der uns dereinst zueinander brachte, der uns dereinst
voneinander trennte. Es sollte wohl so sein. Oder hätte es auch anders sein
können? Du bist immer einen Schritt weiter gegangen – und ich mahnte zur
Vorsicht. Im Dunklen vermagst Du nicht abzuschätzen wo der sichere Weg endet
und das Wasser beginnt. Hoch hinaufgestiegen bist Du, ja geflogen, und
abgestürzt. Ein wenig konnte ich Dich halten, doch Du schobst mich weg, mich
und meine Hand, und dann habe ich sie ganz zurückgezogen. Ich will es wieder
versuchen, wenn Du es noch einmal wagst. Niemand hat es je gesehen, wie die
Sterne strahlen und der Mond sich wiegt, niemand wird es je sehen, so wie Du es
siehst, wie ich es sehe.
Nachdenklich
und dennoch unbeschwert,
XX
Und ich würde Blütenblätter streuen, auf
dem Steg, weiß wie die Unschuld und der unbeschwerte Beginn, rot wie das Blut und
das Leuchten des abendlichen Himmels, in der Nacht des vollen Mondes, zur
Stunde des Todes des Tages, die der Nacht zu leben ermöglicht. Langsam, wie
unbeabsichtigt, entgleitet der Brief meinen Fingern, wird vom Wind ergriffen
und auf den See geweht, von den Wellen davongetragen, als hätte es ihn niemals
gegeben.
[1] Für alle
Spätgeborenen und E-Mail-Verschlissenen, ein Brief ist ein antiquiertes
Kommunikationsmedium. Dabei handelt es sich um ein Stück Papier, das mit der zu
übermittelnden Nachricht beschrieben wird. Hernach wird es in ein Kuvert
gesteckt, mit der Adresse dessen versehen, der den Brief erhalten soll und der
Postbote überbringt ihn nach einigen Tagen persönlich.
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