2808 Zwischen Hoffnung und Gewissheit


Zwischen Hoffnung und Gewissheit


Wie seltsam war es doch, dass es geschah und dass ich es nicht vermutete. Da war etwas Weißes auf meinem Steg, das nicht dorthin gehörte und das ich nicht kannte. Neugierig ging ich darauf zu, kniete mich nieder um es näher zu betrachten. Es war ein Brief[1] und die markante Schrift ließ keinen Zweifel darüber offen wer der Verfasser war. Aber warum hattest Du mir geschrieben, gerade jetzt? Oder warum überhaupt? Langsam und vorsichtig hob ich ihn auf, als würde ich etwas sehr Zerbrechliches in die Hand nehmen, dabei war doch schon alles zerbrochen. Oder doch nicht? Hastig riss ich ihn auf. Ja, es war doch noch nicht alles. Oder doch? Ich wagte ihn nicht herauszunehmen. Was sollte ich nur machen? Ihn einfach lesen? Was könnte schon passieren. Und wenn es doch passiert. Unter meiner Weide suchte ich Zuflucht, als wenn er mir dort nichts tun könnte. Als ob er mir überhaupt was tun könnte. Zaghaft begann ich zu lesen:

Liebe Nyx!

Der Schnee hat das Land bedeckt und vieles unter sich begraben, Schönes und Abstoßendes, Gewolltes und Ungewolltes, Getanes und Versäumtes. Doch was es auch war, die Frühlingssonne ließ den Schnee unerbittlich schmelzen und brachte es wieder ans Licht, doch es war noch zu früh. Ringsum sprießen und erwachen, und der Same ward gelegt, der der Pflanzen und der Gedanken. Beides braucht seine Zeit zu reifen, und der Sommer kam und sorgte dafür, dass aus der Blüte eine Frucht wurde. Jetzt ist es Zeit für die Ernte. Nicht vor der Zeit, nicht vor der richtigen Stunde. Doch wann ist der? Der Baum weiß wann er die Frucht loslassen muss, doch woher wissen wir es, wann ein Gedanke reif ist in Worte, gar in Taten gefasst zu werden. Ist es zu früh, so kann er misslingen. Ist es zu spät, so findet er nicht mehr den rechten Widerhall, doch es ist an uns es zu wagen, an uns ihn in die Freiheit zu entlassen und an uns eine Entscheidung zu treffen. Denn leider wird nicht alles gut, nur weil es lange währt, aber ich trage ihn nun schon so lange, trage ihn nun zum Steg am See, in dem sich der volle Mond in jener Nacht spiegeln wird, trage ihn mit mir und aus mir, da, der Tag Abschied nimmt und die Nacht hereinbricht, in jener Nacht des vollen, satten Mondes, der uns dereinst zueinander brachte, der uns dereinst voneinander trennte. Es sollte wohl so sein. Oder hätte es auch anders sein können? Du bist immer einen Schritt weiter gegangen – und ich mahnte zur Vorsicht. Im Dunklen vermagst Du nicht abzuschätzen wo der sichere Weg endet und das Wasser beginnt. Hoch hinaufgestiegen bist Du, ja geflogen, und abgestürzt. Ein wenig konnte ich Dich halten, doch Du schobst mich weg, mich und meine Hand, und dann habe ich sie ganz zurückgezogen. Ich will es wieder versuchen, wenn Du es noch einmal wagst. Niemand hat es je gesehen, wie die Sterne strahlen und der Mond sich wiegt, niemand wird es je sehen, so wie Du es siehst, wie ich es sehe.

Nachdenklich und dennoch unbeschwert,
XX

Und ich würde Blütenblätter streuen, auf dem Steg, weiß wie die Unschuld und der unbeschwerte Beginn, rot wie das Blut und das Leuchten des abendlichen Himmels, in der Nacht des vollen Mondes, zur Stunde des Todes des Tages, die der Nacht zu leben ermöglicht. Langsam, wie unbeabsichtigt, entgleitet der Brief meinen Fingern, wird vom Wind ergriffen und auf den See geweht, von den Wellen davongetragen, als hätte es ihn niemals gegeben.



[1] Für alle Spätgeborenen und E-Mail-Verschlissenen, ein Brief ist ein antiquiertes Kommunikationsmedium. Dabei handelt es sich um ein Stück Papier, das mit der zu übermittelnden Nachricht beschrieben wird. Hernach wird es in ein Kuvert gesteckt, mit der Adresse dessen versehen, der den Brief erhalten soll und der Postbote überbringt ihn nach einigen Tagen persönlich.

Keine Kommentare: