Die Braut
Ich ging zu
ihr, der Frau im weißen Kleid. Sie saß alleine auf der Bank uns gegenüber. Das Kleid, das sie trug war bodenlang und über und über mit Applikationen versehen.
Eine lange Schärpe zog sie hinter sich nach, die wohl auch einmal weiß gewesen war, doch nun grau und
zerrissen. Ihr Gesicht war hinter einem Schleier verborgen. Es schien als
hielte sie den Kopf gesenkt, den Blick starr auf das Bündel gerichtet, das sie in den
Armen hielt, ein schwarzes, kleines Bündel.
„Ich bin der Anfang und stehe am Anfang“, sprach sie mich unvermittelt an,
doch ohne den Blick zu heben, und doch war ich sicher, dass es mir und niemand
anderem galt.
„Du kannst nicht gleichzeitig etwas sein und darin stehen“, entgegnete ich entsprechend.
„Du lebst, bist lebendig und stehst im Moment des Lebens“, erklärte sie lakonisch.
„Wer bist Du?“, fragte ich.
„Ich bin Braut, und damit auch Sinnbild für einen ganz besonderen Anfang
mitten im Leben, über den ich doch nie hinauskam“, verriet sie mir.
„Willst Du mir Deine Geschichte erzählen?“, fragte ich leise.
„Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich war Braut und er war Soldat. Wir hatten uns gefunden und
wollten nicht mehr voneinander lassen. Vor dem Altar sprach ich das Ja, als er
mir aus den Händen und in den Krieg gerissen wurde, noch bevor er sich erklären konnte. Seit dem bin ich Braut.
Durch all die Jahre, Jahrzehnte habe ich das Braut-sein nicht mehr ablegen können und unsere Liebe wie ein
ungeborenes Kind auf den Armen getragen“, erzählte sie gelassen, mit eben jener
Monotonie, die einlullt und es mir schwer werden ließ ihren Worten zu folgen, die Sinn
zu fassen.
„Für einen Anfang ist es nie zu spät“, sagte ich verwirrt.
„Niemals, und deshalb wartete ich. Zunächst zählte ich die Tage, dann die Wochen,
dann die Monate, und zuletzt nicht einmal mehr die Jahre. Ich blieb was ich
war, immer bereit einen Anfang zu tun, bis zu jenem letzten Tag“, sprach sie mir zu, und wie um
ihre Aussage zu unterstreichen, lüftete sie ihren Schleier. Ein Gesicht kam zum Vorschein, über und über mit Runzeln bedeckt. Diese Frau
war nicht einfach nur alt, sie war uralt, unsagbar alt, wirkte wie ein
Urgestein aus grauer Vorzeit, nur in ihren Augen flammte eine unbesiegte
Flamme. Das ungebrochene Wollen. Der Anfang, der noch immer ausständig war.
„Wie alt bist Du?“, fragte ich spontan.
„So alt wie das Leben selbst. Oder so jung. Ich bin das Alter der Beständigkeit und die Jugend der unverbrüchlichen Hoffnung. Wir hatten uns
gefunden und konnten nicht mehr voneinander lassen, und mit mir trug ich unsere
Liebe, durch all die Jahre, durch all die Jahrzehnte“, und als sie dies sagte, schlug
sie das schwarze Tuch, in das das Bündel gewicktelt war, das sie in den Armen trug. Ein Säugling kam zum Vorschein, sanft und
rein wie der Morgentau, und so unbeweglich, als hätte er nie gelebt.
„Ich trage unsere Liebe, geboren aus dem Nicht-gesprochenem, aus dem
Anfang, der immer noch offen ist, aus dem Leben, das nie gelebt wurde“, sprach sie mir zu, und tiefe
Trauer war in ihrer Stimme.
Die Braut
Anfang,
einlassen auf
etwas,
das niemals
war,
das niemals
wieder sein wird,
verlockend
einfach,
einfach
nichts zu tun,
als Ja zu
sagen,
hinein ins
Ungewisse,
Dir zu ...
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