1710 Der Schmerz


Der Schmerz


Einen Strauß langstieliger roter Rosen hielt sie in ihren Armen, fest an sich gedrückt. Damit setzte sie sich auf den Boden und legte sie auf, eine Rose neben die andere, in ihrem Schoß, den Stoff ihres weiten Kleides darunter breitend. Ich sah es, wie sie die Rosen ausbreitete und bettete. Ich sah es, wie sie jede einzelne Rose in ihre Hände nahm und übe die blutrote Blüte strich.
Samtig weich ist ihr Haupt, wie Deines, sprach sie mir zu, als ich mich neben sie setzte.
Dornenbewehrt ist ihr Leib, wie Deiner, sprach sie mir zu.
Dann zähme sie und nimm ihnen die Dornen, spreche ich ihr zu.
Nein, dann sind sie nicht mehr sie selbst, dann bist Du nicht mehr Du selbst. Sieh, jede dieser Rosen steht für das Schöne, das Beglückende in einem Leben. Samtig weich wie ihre Köpfchen, kommt es uns entgegen. Wir beugen uns entgegen, saugen den süßen, betörenden Duft ein, streichen über ihre samtene Haut und nehmen sie. Mit beiden Händen greifen wir zu, packen sie an ihrem schlanken Leib und sie treibt uns ihre Dornen durch die Haut ins Fleisch. Dunkelrot färbt sich der Stiel. Wir lassen sie fallen und können doch nicht weitergehen. Das Köpfchen bleibt, dunkelrot, samten und betörend duftend, spricht sie mir zu.
Dann schneide ihnen doch die Dornen weg, spreche ich ihr zu, in all meiner Naivität.
Das wäre als würde ich das Leben selbst entzweischneiden, zu dem das samtig Schmeichelnde ebenso gehört wie das Schmerzende, sprach sie mir zu.
Wer bist Du?, fragte ich unvermittelt.
Ich bin der Schmerz.
Diese Rose ist das Glück der Mutter, ihr Kind in den Armen zu halten, und der Schmerz es gehen zu lassen.
Diese Rose ist das Glück der Liebenden, die sich fanden, und der Schmerz die Liebe auch wieder welken zu sehen, der Schmerz der Trennung.
Diese Rose ist das Glück der Freundschaft, die sich ereignet, unversehens, und der Schmerz des Missverständnisses, des Nicht-Verstehens.
Diese Rose ist das Glück des Erfolges, der Dich erfüllt, und der Schmerz ihn wieder zu verlieren.
Diese Rose das Glück des Lebens, dessen Du teilhaftig wirst, und der Schmerz es wieder lassen zu müssen.
Diese Rose letztendlich ist das Glück des Moments, den Du lebst, und der Schmerz über jeden Verrat an den vergangenen und an den zukünftigen.
Nur wenn Du den Schmerz fasst und eindringen lässt, wirst Du zurückblicken auf ihr samtenes Köpfchen und Dich einlullen lassen von ihrem betörenden Duft, sprach sie sich mir, sammelte die Rosen wieder ein, die Stiele fest umfassend, und dunkelrotes Blut tropfte auf den Weg, dunkelrot wie die samtenen Köpfchen.


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