Leben
„Du darfst es niemals bei einem ersten Blick belassen, wenn Du wirklich
verstehen willst“, sprach ich, als ich zu Tod zurückkehrte.
„Du musst aber immer wissen, dass ein zweiter Blick vieles eröffnet, doch nicht immer das, was Du
wirklich sehen willst“, erwiderte Tod.
„Er kann die Wahrheit ans Licht bringen, dieser zweite Blick, kann
befreien und den Schein enttarnen“, meinte ich versonnen.
„Er kann aber auch die Illusion zerstören und Du erfährst, dass hinter der Fassade Leere
herrscht“, entgegnete Tod, als eine großgewachsene Frau auf uns zukam, gekleidet in rotes Leder. Lächelnd kam sie auf uns zu.
„Was treibt Dich unter die Lebenden?“, fragte die, die sich noch nicht
zu erkennen gegeben hatte.
„Was treibt Dich unter die Toten?“, fragte Tod zurück.
„Die Liebe“, erwiderte die Angesprochene jovial.
„Wer bist Du?“, fragte ich unvermittelt.
„Leben, und wenn Tod davon sprach, dass es genug gibt, was sich auf den
zweiten Blick als leer und schal erweist, dann meinte sie mich. Hab ich recht?“, fragte Leben lächelnd.
„Ja, Du hast recht und Du weißt es auch. Aber ist es denn nicht so, dass die Menschen es nicht vermögen, Dich, so zu nehmen wie Du
bist, einfach nur als das Leben, das beginnt und endet. Warum versuchen sie
auch immer mehr und mehr hineinzuinterpretieren als wirklich ist?“, fragte Tod sinnend.
„Weil sie es einfach nicht hinnehmen wollen, dass Leben einfach Leben
ist. Weil es ihnen nicht genügt, dass der Moment ist, den sie nutzen können. Weil sie immer einen Sinn in
allem haben müssen“, erwiderte Leben.
„Weil der Mensch nun mal nur das hat, das Leben, und er verkrallt sich
darin, will ein Mehr daraus machen, mehr, als es in Wirklichkeit ist, sein
kann, weil er sich nicht damit begnügen kann, dass Leben einfach nur lebendig zu sein braucht um richtig zu
sein, weil das zu einfach scheint, nur leben, nur da zu sein und zu bleiben,
und vor lauter Auftürmung an Erwartungen und Sinnhaftigkeit, die er ihm zu verleihen sucht,
vergisst er auf das Eigentliche“, setzte ich hinzu.
„Und das ist das Leben selbst. Kaum dass er es sich versieht, bin ich
schon da, und fodere ihn ein, den Menschen. ‚Aber ich habe doch noch gar nicht
gelebt! Lass mich doch noch eine Zeitlang da!’, versuchen sie mich dann zu beschwören“, ergänzt Tod.
„Und selbst wenn Du dieses Zugeständnis machtest, wäre es dann anders? Würde der Mensch wirklich diese
zweite Chance nutzen und von seinem zweiten Blick ablassen und leben, einfach
nur leben?“, fragte ich.
„Nein, er tut es nicht. Und selbst wenn er hundert Leben hätte, hundert Möglichkeiten es anders zu machen als
zuvor, hundert Möglichkeiten hätte einen anderen Weg zu beschreiten als den bereits gegangen, er würde es immer gleich machen, immer
und immer wieder“, fügte Leben schulterzuckend hinzu.
„So gibt es keine Rettung? Keinen Fortschritt?“, fragte ich.
„Keine Rettung, keinen Fortschritt“, bestätigte Leben.
„Aber die eine Gewissheit, die bleibt, geboren zu werden und sterblich zu
sein. Hat nicht auch das etwas ungemein Tröstliches?“, meinte der Tod.
„Könnte es sein. Annehmen und abgeben können, und dazwischen sein. Mehr ist
es nicht, und doch das Beste von allem“, antwortete ich.
Und Tod und
Leben lösten sich voneinander. Ich blieb allein zurück. War es denn wirklich geschehen?
War es nur Einbildung?
Vorsichtig
hob ich eine Rose auf, mit einem dunkelroten, samt-weichen Köpfchen, und die Stacheln bohrten
sich mir tief ins Fleisch.
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