1910 Weichen


Weichen


"Wo mich der Weg wohl hinführt?", fragst Du, während sich Dein Blick in der Ferne verliert.
"Immer nach Hause, um mit Freiherr von Eichendorff zu sprechen", antworte ich leichthin.
"Letztendlich ja, aber es gibt so viele Wege, so viele Möglichkeiten. Überall gibt es Weichen, die ich stellen kann, doch wie soll ich sie stellen?", fragst Du weiter.
"Das kann Dir niemand sagen. Du musst es wissen. Denn der Weg, den Du gehst, dieser Weg ist noch niemals gegangen worden und wird auch niemals wieder gegangen werden, denn es ist der Deine. Niemand kann Dir raten, niemand Die das Leben abnehmen. Manche Stücke wirst Du viele Begleiter haben und andere wiederum wirst Du alleine bestreiten müssen. Es werden gerade und gut überschaubare dabei sein, und dann wieder holprige, wild verwachsene", antworte ich, während ich versuche Deinen Blick einzuholen.
"Und was, wenn ich mich nicht entscheiden will? Wenn ich sie endlich satt habe, diese ewige Entscheiderei? Ich werde mich einfach hinsetzen, an irgendeiner dieser Gabelungen und dort bleiben!", entgegnest Du herausfordernd.
"Nichts spricht dagegen, dass Du Dich hinsetzt und ausruhst, ein wenig. Wer sagt denn, dass nur eine schnelle Entscheidung eine gute Entscheidung ist. Hier, setz Dich zu mir und verweile, ein wenig. Aber Du wirst es nicht durchhalten einfach hier zu bleiben", antworte ich, nach meinem Gutdünken.
"Dann bleib mit mir, sodass ich mit Dir bleiben kann!", entgegnest Du hartnäckig. Es wird sich finden, das Bleiben und das Gehen, das Gemeinsam und das Für-sich-sein. Es wird sich finden, das Einschlagen des einen wie des anderen Weges, aber egal wie, immer ist es eine Entscheidung, und wenn es die ist keine Entscheidung zu treffen. Warum also dann nicht selbst in der Hand behalten?", frage ich, meines Erachtens nach, folgerichtig.
"Gar nichts habe ich in der Hand! Egal welchen Weg ich einschlage. Egal wie übersichtlich und einsichtig er zunächst auch immer wirkt, so weiß ich doch nicht wie er sich weiter entwickelt, kann ich nicht ermessen wohin er mich führt", fügst Du energisch hinzu.
"Wir haben es nicht gänzlich in der Hand", gebe ich zu.
"Wir haben es nicht nur nicht gänzlich in der Hand, wir haben nichts weiter zu übernehmen als diesen ersten Schritt. Alles was folgt entzieht sich unserer Einflussnahme! Ich habe doch noch nicht einmal die Möglichkeit wieder umzukehren, wenn der erste Schritt in eine bestimmte Richtung mal gesetzt ist. Wo ist also meine Freiheit? Nur dieser erste Schritt ist es, nichts weiter", reklamierst Du.
"Und wenn wir dann sogar auf diesen verzichten, dann bleibt nichts mehr", merke ich an.
"Aber im Endeffekt ist es doch bloß Illusion. Irgendwann lassen wir diesen Weg endgültig hinter uns, und dann spielt es keine Rolle mehr, welchen Weg wir dazwischen gegangen sind. Fast möchte man meinen, dass das so etwas wie eine Beschäftigungstherapie ist, damit es nicht allzu langweilig wird dieweil wir hier auf Erden leben", resümierst Du.
"Aber wenn es wirklich so ist, wenn es keine Rolle spielt, dass Du Dein Leben lebst oder nicht, warum dann nicht gleich ein Ende setzen, nachdem wir schon keine Möglichkeit haben zu verhindern geboren zu werden", entgegne ich.
"Es wäre durchaus konsequent, konsequent und folgerichtig. Letztendlich ist es vernünftig, aber weißt Du was, lass uns doch heute noch ein Stück gemeinsam gehen, und morgen, morgen vielleicht", sagst Du nachdenklich.
"Und in welche Richtung wollen wir die Weiche stellen?", frage ich.
"Nach links", entscheidest Du leichthin.
Ich nehme Deine Hand und folgen dieser Weichenstellung nach links. 

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