Begebenheiten
Es hatte schon etwas ganz Eigenes, etwas
ganz, ganz Eigenes um so manche Begebenheiten. Stundenlang nun schon saß sie da
und grübelte. Das Feuer flackerte im Kamin. Es hatte nichts zu sagen,
eigentlich, und doch, in wie vielen Spielarten, in wievielen Nuancen die
Flammen züngelten, wie sie sich vereinten und wieder trennten, wie sie sich
lustvoll umschmeichelten und auseinander stoben. Wo sie auch hinsah, überall
fand sie Sinnbilder für das Geschehene und das Gegenwärtige, das doch nichts
weiter war als das Ergebnis vorhergegangener Entscheidungen. Entscheidungen,
das eine zu wählen und das andere zu lassen, und doch hatte es etwas Eigenes,
etwas ganz, ganz Eigenes. Das eine zu wählen und das andere zu lassen? War es
denn eine Wahl gewesen? Vielleicht von irgendjemanden oder irgendetwas. Aber
war es denn ihre Wahl gewesen? Sie grübelte schon die längste Zeit, aber sie
konnte sich nicht erinnern irgendwann eine Wahl getroffen zu haben, und doch
musste es gewesen sein, denn sonst würde sie nicht da sitzen und grübeln und
das sich ständig ändernde und doch in sich gleichbleibende Spiel der Flammen
beobachten können. Was es auch war, sie war sich sicher, sie hatte nicht
gewählt. Aber wenn sie nicht gewählt hatte, wer war es dann gewesen? Wer hatte
da für sie und über ihr Leben bestimmt? Zugegebenermaßen, es war eine gute Wahl
gewesen, aber wenn sie nicht wusste wer es war, an wen sollte sie sich dann
wenden? Wem sollte sie danken? Oder bloß sagen, dass es gut war so gewählt zu
haben? Wer, verdammt nochmal, war verantwortlich? Nein, nur nicht laut werden,
jetzt nicht laut werden, denn sie hatte Angst, dass es sich vertreiben ließe,
was immer es war. Dabei hatte sie doch immer geglaubt das Heft in der Hand zu
haben, war immer überzeugt davon gewesen, das nichts in ihrem Leben geschehen
konnte, ohne dass sie die Hand im Spiel hatte oder etwas dazu zu sagen hatte
oder bloß ihr Veto einlegen hätte können. Und plötzlich war da nichts mehr von
Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortlichkeit oder Wahlmöglichkeit. Alles geriet
ins Wanken, bloß sie schwankte nicht. Sie wusste sich gehalten, weil es diese
Wahl gegeben hatte, die nicht die ihre war, und doch ihr Leben völlig
veränderte. Vielleicht wäre es ganz anders gekommen, wenn sie gewählt hätte.
Vielleicht oder gar wahrscheinlich? Dabei hatte sie es bis jetzt immer für eine
blöde Ausrede gehalten, dieses „Ich weiß nicht wie das passieren konnte, aber
es ist passiert“. Höchstens ein müdes Lächeln hatte es ihr abgerungen, diese
billigen, fatalen Ausreden, wie sie meinte. Stringent, geradlinig und
konsequent, das waren die Zauberworte, die bedingten, dass es eben nicht
passierte, dass sie immer selbst die Wahl traf – bis es ihr zustieß. Völlig
hilflos sah sie sich dieser Situation gegenüber. Wie leicht wäre es jetzt
gewesen sich auf irgendwelche numinosen Mächte herauszureden. Das Schicksal
oder die Vorsehung oder der Zufall oder Gott, doch das war ihr denn doch ein zu
starker Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Abschieben, einfach abschieben und sein
lassen, das wäre so einfach gewesen. Aber hatten diese Mächte nicht was
Besseres zu tun als sich gerade um sie zu bekümmern? War Gott so furchtbar fad,
dass er sich jetzt da mal in ihr Leben einmischen musste, so zwischen
Mittagessen und Nachmittagstee, weil er mal wieder nicht schlafen konnte und
sich durch das Gewusel der Menschen gezapt hatte wie unsereins durch die
Fernsehkanäle. Es war zu dürftig, sogar als Ausrede. Und sie sah ins Spiel der
Flammen, die Farben, die Bewegungen und dachte, dass es nicht ein Wahl hatte
sein müssen, keine Wahl und keine Entscheidung, sondern eine bloße Begebenheit,
zwar allen anderen überhoben und herausragend, aber doch eine Begebenheit.
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