Erkennen
Nachdenklich betrat sie ihre Wohnung. Trotz des
Zuspruchs, den sie erfahren hatte, fühlte sie sich schuldig, ihrem Freund
gegenüber, der das doch so gewollt hatte und jetzt wer weiß was machte, dem
Mann gegenüber, mit dem sie aus gewesen war, und der trotz allem ihre
Freundschaft suchte, aber vor allem sich selbst gegenüber. Irgendwie hatte sie
sich von Anfang an unwohl gefühlt, auch wenn sie nicht genau sagen konnte
warum. Langsam begann sie zu begreifen, dass es Dinge gab, die für einen
bestimmten Menschen reserviert waren, die sie nur mit diesem einen teilen
konnte und wollte. Nicht, dass es ihr um Moral ging, aber es gab etwas in ihr,
das sich dagegen wehrte, und sie konnte nicht darüber hinwegsehen. Was er wohl
gerade machte, mit ihr? Er hatte wahrscheinlich nicht solche Skrupel. Sie hatte
so ein klares Bild gehabt von diesem Abend, und jetzt stand sie hier am
Fenster, starrte hinaus in die Nacht und fühlte sich leer und einsam.
Vielleicht sollte sie die Zeit nutzen und ein Buch lesen. Aber ihre Gedanken
waren unstet und träge zugleich. Sie wusste, sie würde sich nicht konzentrieren
können. Schließlich kannte sie sich selbst gut. Aber obwohl sie sich kannte
hatte sie sich auf so etwas eingelassen. Hätte sie das nicht auch schon vorher
wissen müssen? Hätte sie nicht absehen müssen, dass sie das einfach nicht
fertig bringen würde? Hätte sie wohl. Wie schnell man doch bereit ist für einen
anderen etwas zu tun. Wie sehr war sie darauf konzentriert gewesen sein Wollen
zu erfüllen, dass sie sich über ihr eigenes gar keine Gedanken machte. Ein
heftiger Schmerz durchfuhr sie, denn sie wusste, wenn sie sich wiedersehen
würden, dann würde nichts mehr so sein wie vorher. In dieser Nacht, so war sie
überzeugt, hatten sie einander verloren. Nichts mehr würde so sein, wie es
vorher war.
Plötzlich klingelte es an der Türe. Wer konnte das wohl
sein, um diese Zeit? Vielleicht war es ihr Begleiter von diesem Abend. Aber
nein, der wusste ja gar nicht wo sie wohnte. Aber wer würde um diese Zeit
klingeln?
Neugierig lugte sie durch den Türspion, und konnte ihren
Augen kaum trauen. Kurz darauf saß sie mit ihrem Freund auf der Couch im
Wohnzimmer.
„Ich habe noch Licht bei Dir gesehen, und so dachte ich,
ich schau noch einen Sprung vorbei“, erklärte er, und es klang beinahe wie eine
Entschuldigung.
„Und wie war Dein Abend?“, fragte sie verhalten.
„Der Abend selbst war sehr nett. Eine tolle, einfühlsame
Frau. Aber ich konnte es nicht“, sagte er.
„Was konntest Du nicht?“, hakte sie nach.
„Nun, wir waren essen und im Kino. Haben uns auch sehr
nett unterhalten, aber dann konnte ich nicht weiter“, versuchte er zu erklären.
„Du hast also nicht ...“, begann sie.
„Nein, ich habe nicht. Es fühlte sich nicht richtig an.
Ich musste die ganze Zeit an Dich denken, und wusste, dass es Dinge gibt, die
ich nur mit Dir machen möchte“, erklärte er nachdrücklich.
„Mir ging es genauso. Es war mir, als würde danach etwas
zwischen uns stehen, was nie mehr weg ginge, und das wollte ich nicht“, führte
sie aus.
„Wirklich?“, wollte er sich vergewissern, und zum ersten
Mal lächelte er, nahm sie in den Arm, und sie lehnte erleichtert ihren Kopf an
seine Schulter.
„Ich weiß ja nicht wie andere das machen, und es ist mir
im Grunde genommen auch egal. Soll es doch altmodisch anmuten, aber ich liebe
Dich“, sagte sie mit Nachdruck.
Und es war ihnen, als hätten sie sich aufs Neue gefunden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen