Der Übersetzer (Teil 1)
Fritz Freundlich war, wie sein Name schon sagte, freundlich, und
zwar immer, egal ob es sich um die Nachbarin, den Gasableser oder seine
Freundin handelte. Er war freundlich, wahllos und immer in der gleichen
Intensität. Seine Freundlichkeit hatte etwas Entmutigendes. Natürlich, so lange
man ihn nicht näher kannte, dachte man, dass er einfach ein freundlicher Mensch
war, mit dem man gerne Umgang pflegte. Man traf ihn gerne auf der Straße oder
im Wartezimmer des Arztes oder im Park. Dann wurden ein paar Worte gewechselt.
Er fragte nach der Befindlichkeit, nach der Befindlichkeit der Kinder, der
Eltern und der Urstrumpftante. Er erkundigte sich nach dem Gang der Geschäfte.
Alles schien er sich zu merken. Nach diesem Geplänkel fühlten sich die
Angesprochenen heiter und leicht, doch er hielt es mit dem Gasableser ebenso
wie mit seiner Freundin, und das war doch irritierend. Egal was passierte, er
blieb freundlich und zuvorkommend. Verspätete sich Ines, seine Freundin, um
viele Stunden, was des Öfteren passierte, war er immer noch freundlich. Auch
wenn sie gar nicht kam, er war freundlich. Diese Art der Freundlichkeit hatte
etwas Teilnahmsloses. „Kannst Du nicht ein wenig Enthusiasmus zeigen?“, fragte
sie ihn immer wieder. „Aber das tue ich doch, wenn Du es wünscht, meine Liebe“,
antwortete er stoisch und ungerührt, aber freundlich. Zehn Jahre waren sie
nunmehr zusammen, und wenn man Ines gefragt hätte, warum sie denn bei ihm
blieb, so wusste sie nicht mehr zu sagen als „Weil er so freundlich ist.“
Vielleicht hatte sie Angst, dass er freundlich bliebe, wenn sie ihm sagte, sie
verließe ihn, Angst, dass er ebenso stoisch und unberührt wäre. Es war diese
Angst herauszufinden, dass sie ihm im Grunde nichts bedeutete, oder nicht mehr
als die Nachbarin oder der Gasableser. So blieb sie. Und er blieb so wie er
war. Doch eines Tages geschah das schier Unmögliche. Fritz hatte zwei Stunden
in dem Café verbracht, in dem sie sich verabredet hatten, und Ines war wieder
einmal nicht gekommen. Nachdem er das mitgebrachte Buch fertig gelesen hatte,
wollte er gehen, doch plötzlich wurde er aufmerksam. In einem kleinen Nebenraum
fand offenbar eine Lesung statt, denn als die Türe geöffnet wurde, wehten
Wortfetzen zu ihm herüber, duftende, weiche, warme weibliche Worte. Es war
weniger der Inhalt, der ihn aufmerken ließ, vielmehr die Melodie dieser Worte,
eine Melodie, die ihn sofort gefangen nahm, wie der Gesang der Sirenen die
Männer um den Verstand brachte. Verstohlen trat er ein. Eine zierliche Frau, saß
auf einem der Tische, umringt von einer Handvoll Zuhörer, die atemlos
lauschten, ebenso wie Fritz. Es wirkte wie eine kleine, eingeschworene
Gemeinschaft, die sich um die Künstlerin scharrte. Fritz hätte ihr stundenlang
zuhören können. Nachdem sie geendet und der letzte Ton verhallt war, trat er
auf sie zu, und sie lächelte ihn an. Fritz Freundlich war wohl – zum ersten Mal
in seinem Leben – nicht freundlich. Er fühlte sich gehemmt und verlegen, aber
er wusste was er wollte. „Lassen Sie mich Ihr Übersetzer sein“, bat er
inständig. „Ich würde Sie gerne mein Übersetzer sein lassen, aber meine Werke
sind nicht einmal in der Ursprungssprache gefragt. Wie dann erst in einer
fremden? Sie werden keinen Lohn für Ihre Arbeit erhalten“, wandte sie ein. „Das
ist mir alles egal. Ich übersetze seit vielen, vielen Jahren und kann recht gut
davon leben. Doch was ich bisher übersetzte, ja, das ließ mich kalt. Das war
pragmatische, seelenlose Arbeit. Ich will nicht andeuten, dass ich sie nicht
korrekt und nach besten Möglichkeiten erfüllt hätte, aber Ihre Worte, berühren
mich im Innersten, rühren etwas in mir, was noch nie berührt wurde, und ich
will nichts verdienen, nur Ihr Werk übersetzen“, bat er inständig, und sie
hatte keine Wahl. Sie konnte nicht Nein sagen. Doch was als eine Arbeit
nebenbei begann, führte dazu dass er bereits nach wenigen Wochen nichts anderes
mehr machte als ihr Werk zu übersetzen, nichts anderes machen, denken konnte.
Er trug es mit sich wie die Mutter ihr Kind wohlbehütet im Tragetuch. Bald
wusste er jede Einzelheit, jede kleine Eigenheit ihrer Art zu schreiben, bald
kannte er sie besser als die Künstlerin, die sich Nana nannte, selbst.
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