2106 Der Übersetzer (Teil 1)



Der Übersetzer (Teil 1)




Fritz Freundlich war, wie sein Name schon sagte, freundlich, und zwar immer, egal ob es sich um die Nachbarin, den Gasableser oder seine Freundin handelte. Er war freundlich, wahllos und immer in der gleichen Intensität. Seine Freundlichkeit hatte etwas Entmutigendes. Natürlich, so lange man ihn nicht näher kannte, dachte man, dass er einfach ein freundlicher Mensch war, mit dem man gerne Umgang pflegte. Man traf ihn gerne auf der Straße oder im Wartezimmer des Arztes oder im Park. Dann wurden ein paar Worte gewechselt. Er fragte nach der Befindlichkeit, nach der Befindlichkeit der Kinder, der Eltern und der Urstrumpftante. Er erkundigte sich nach dem Gang der Geschäfte. Alles schien er sich zu merken. Nach diesem Geplänkel fühlten sich die Angesprochenen heiter und leicht, doch er hielt es mit dem Gasableser ebenso wie mit seiner Freundin, und das war doch irritierend. Egal was passierte, er blieb freundlich und zuvorkommend. Verspätete sich Ines, seine Freundin, um viele Stunden, was des Öfteren passierte, war er immer noch freundlich. Auch wenn sie gar nicht kam, er war freundlich. Diese Art der Freundlichkeit hatte etwas Teilnahmsloses. „Kannst Du nicht ein wenig Enthusiasmus zeigen?“, fragte sie ihn immer wieder. „Aber das tue ich doch, wenn Du es wünscht, meine Liebe“, antwortete er stoisch und ungerührt, aber freundlich. Zehn Jahre waren sie nunmehr zusammen, und wenn man Ines gefragt hätte, warum sie denn bei ihm blieb, so wusste sie nicht mehr zu sagen als „Weil er so freundlich ist.“ Vielleicht hatte sie Angst, dass er freundlich bliebe, wenn sie ihm sagte, sie verließe ihn, Angst, dass er ebenso stoisch und unberührt wäre. Es war diese Angst herauszufinden, dass sie ihm im Grunde nichts bedeutete, oder nicht mehr als die Nachbarin oder der Gasableser. So blieb sie. Und er blieb so wie er war. Doch eines Tages geschah das schier Unmögliche. Fritz hatte zwei Stunden in dem Café verbracht, in dem sie sich verabredet hatten, und Ines war wieder einmal nicht gekommen. Nachdem er das mitgebrachte Buch fertig gelesen hatte, wollte er gehen, doch plötzlich wurde er aufmerksam. In einem kleinen Nebenraum fand offenbar eine Lesung statt, denn als die Türe geöffnet wurde, wehten Wortfetzen zu ihm herüber, duftende, weiche, warme weibliche Worte. Es war weniger der Inhalt, der ihn aufmerken ließ, vielmehr die Melodie dieser Worte, eine Melodie, die ihn sofort gefangen nahm, wie der Gesang der Sirenen die Männer um den Verstand brachte. Verstohlen trat er ein. Eine zierliche Frau, saß auf einem der Tische, umringt von einer Handvoll Zuhörer, die atemlos lauschten, ebenso wie Fritz. Es wirkte wie eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, die sich um die Künstlerin scharrte. Fritz hätte ihr stundenlang zuhören können. Nachdem sie geendet und der letzte Ton verhallt war, trat er auf sie zu, und sie lächelte ihn an. Fritz Freundlich war wohl – zum ersten Mal in seinem Leben – nicht freundlich. Er fühlte sich gehemmt und verlegen, aber er wusste was er wollte. „Lassen Sie mich Ihr Übersetzer sein“, bat er inständig. „Ich würde Sie gerne mein Übersetzer sein lassen, aber meine Werke sind nicht einmal in der Ursprungssprache gefragt. Wie dann erst in einer fremden? Sie werden keinen Lohn für Ihre Arbeit erhalten“, wandte sie ein. „Das ist mir alles egal. Ich übersetze seit vielen, vielen Jahren und kann recht gut davon leben. Doch was ich bisher übersetzte, ja, das ließ mich kalt. Das war pragmatische, seelenlose Arbeit. Ich will nicht andeuten, dass ich sie nicht korrekt und nach besten Möglichkeiten erfüllt hätte, aber Ihre Worte, berühren mich im Innersten, rühren etwas in mir, was noch nie berührt wurde, und ich will nichts verdienen, nur Ihr Werk übersetzen“, bat er inständig, und sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht Nein sagen. Doch was als eine Arbeit nebenbei begann, führte dazu dass er bereits nach wenigen Wochen nichts anderes mehr machte als ihr Werk zu übersetzen, nichts anderes machen, denken konnte. Er trug es mit sich wie die Mutter ihr Kind wohlbehütet im Tragetuch. Bald wusste er jede Einzelheit, jede kleine Eigenheit ihrer Art zu schreiben, bald kannte er sie besser als die Künstlerin, die sich Nana nannte, selbst.

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