Der Übersetzer (Teil 2)
Fritz Freundlich hatte aufgehört freundlich zu sein. Entgegen
seiner bisherigen Gewohnheit, vergaß er einfach darauf. Nicht, dass er nun
unfreundlich war, aber er war einfach nicht mehr freundlich. Er hörte auf die
Nachbarin oder den Gasableser zu grüßen. Er hörte auf nach deren Befinden, dem
Befinden der Kinder, der Eltern, der Urstrumpftante zu fragen. Nicht, dass er
es nicht tun wollte, er bemerkte die Menschen um sich nicht mehr. Und sein
Nicht-mehr-freundlich-sein war ebenso wahllos und konsequent wie sein
vorheriges Freundlich-sein. Es war, als wäre er aus seiner bisherigen Welt
herausgekippt, hatte die Sandalen ausgezogen und in die Siebenmeilenstiefel der
literarischen Welt gestiegen, und das war Nanas Welt. Er war in ihr, das heißt
in ihren Worten, hinter den Worten, um die Worte, er war die Worte. Längst
hatte er alles übersetzt. Für drei Sprachen war er ausgebildet und in alle drei
Sprachen hatte er all ihre Werke übersetzt. Nun harrte er des Kommenden. „Nana,
wie geht es Dir?“, fragte er, wie jeden Morgen, auch an diesem. „Gut, danke“,
antwortete Nana, auch wie jeden Morgen, und es stimmte wohl auch, meistens
zumindest. „Wie kommst Du mit Deinem neuen Roman voran?“, war die nächste
Frage, und das war die um die es eigentlich ging. Er hätte ebenso gut die erste
auslassen können, denn er hörte die Antwort noch nicht einmal wirklich, weil es
ihn auch nicht interessierte, nur diese zweite, nur die war wichtig. „Es geht
voran. Warum setzt Du mich unter Druck?“, entgegnete sie, und auch hierin gab
es eine Regelmäßigkeit. „Ich will Dich doch nicht unter Druck setzen. Ich will
nur Interesse zeigen“, schwächte er ab, oder versuchte es zumindest. Von Tag zu
Tag wurde es unglaubwürdiger. Von Tag zu Tag wurde er bestimmender und fordernder,
und Nana begann sich ein klein wenig unwohl zu fühlen, unwohl genug, um ihren
Festnetzanschluss abzubestellen. Dann konnte er nicht mehr anrufen, aber was
für Höllenqualen stand er durch. Natürlich, er hätte auch etwas anderes
übersetzen können, hätte sich anderen Dingen z.B. seiner Freundin widmen
können. Ach nein, das ging ja nicht mehr. Vor einigen Tagen stand Ines in der
Türe und verkündete, dass sie sich von ihm trennen würde. Dann murmelte sie
noch so etwas wie, dass es eigentlich nur mehr Formsache wäre, weil er sie ja
doch schon seit Wochen nicht mehr wahrnahm und es ihn eh nicht interessierte,
woraufhin er so etwas ähnliches sagte wie, „Ist recht, meine Liebe“, und dann
ging sie. Nun ja, sollte sie, er hatte ja diese Worte, und er brauchte nicht
mehr. Doch jetzt war ihm der Stoff ausgegangen, und die, die ihm diesen liefern
sollte, kam dem einfach nicht nach. Schließlich tat er nichts anderes mehr, als
zu warten. In seiner Wohnung verbarrikadiert erwartete er diesen Roman, von dem
sie ihm erzählt hatte. Alles was er brauchte ließ er sich liefern. Es ist ja
heute alles so einfach, mit Internet und all dem anderen. Er vergaß sich zu
waschen, die Wohnung zu putzen, denn er hatte Angst, Angst den Moment zu
verpassen, in dem das Werk geliefert wurde. Aufrecht saß er auf seinem Stuhl,
den er gegenüber der Türe platziert hatte. Darin saß er, den ganzen Tag, die
ganze Nacht. Manchmal sank er zurück und nickte ein, aber niemals für lange,
denn bei dem kleinsten Geräusch schreckte er hoch. Sollte das jetzt der
Briefträger gewesen sein? Hatte er die Lieferung verpasst? Das durfte auf gar
keinen Fall passieren, denn dann steckte der Briefträger den gelben Zettel in
den Briefkasten und er hätte die Wohnung verlassen müssen, um den langen Weg
zur Post auf sich zu nehmen. Ihm graute allein bei dem Gedanken daran, doch
dann war es endlich so weit, das Paket kam, der neue Roman, und er stürzte sich
sofort darauf. Drei Sätze las er. „Das kann nicht sein, das darf nicht sein.
Das ist doch alles falsch“, hätte man ihn murmeln hören können, wenn man dabei
gewesen wäre, doch er war allein, und aus dem Murmeln, begleitet von heftigem
Kopfschütteln wurde ein lauteres Sprechen, das bis zum Schrei anschwoll, „Das
ist alles falsch!“
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